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Leitfaden China

Leitfaden China

Titel: Leitfaden China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Jakob Roth
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auch im kleineren Rahmen bewegt sich die Wirklichkeit weiter, man tut gut daran, sie auch hier zu überwachen.

    3. Planung und Risikoverständnis
    Wie ebenfalls angedeutet, ist in der als fliessend wahrgenommenen Realität auch das Risikoverständnis beträchtlich anders.
    Ein Planungsprozess, welcher den Endzustand mit dem heutigen Moment zu verbinden sucht, ist nur in einer westlich statischen Sicht möglich. Die westliche Beobachterposition erlaubt eine Reduktion der Informationen auf das, was die Person für ihr zukünftiges Vorhaben interessiert (siehe Graphik 3, S. 39). Zudem sind Unterschiede in für das Projekt wichtige und unwichtige Informationen möglich und Ursache – Wirkungs-Zusammenhänge können erschlossen werden. Alle anderen Informationen, die mit dem Projekt in keinem direkten Zusammenhang stehen, werden als unwesentlich abgetan und nicht in den Planungsprozess einbezogen.
    Der Planungsprozess ist dazu angelegt, die Risikolage möglichst präzise zu überblicken und nicht bei der Ausführung des Projektes plötzlich auf Hindernisse zu stossen, die man nicht vorher hätte sehen oder abschätzen können. Der Vorteil des westlichen Planens liegt denn auch gerade in dieser Form der Risikoabschätzung und den damit geschaffenen Möglichkeiten der Risikoverminderung, der Nachteil in der relativen Schwerfälligkeit des Prozesses. Wenn nicht deutlich wird, wie sich das Endstadium aus dem heutigen Moment ergibt, dann wird nicht entschieden. Man geht nochmals über das Projekt. So lange noch offene Fragen bestehen, werden die Aufgaben nicht an die Hand genommen. Man versucht nicht, sie auf praktische Art zu lösen, wenn nicht klar ist, wie diese Lösungen aussehen sollen. Westliches Handeln ist damit sehr risikoscheu, und allein die Tatsache der Planung zeigt, wie stark wir Risiken zu vermeiden suchen.
    Der chinesische Unternehmer oder Politiker plant in diesem Sinne nie. Er kann es auch nicht, weil er zu stark auf das Hier und Heute fixiert ist. Das heisst aber nicht, dass er keine Zukunftssicht hätte, das entspräche kaum dem menschlichen Denken. Doch seine Zukunftssicht ist eher mit einer Vision zu umschreiben, deren Zusammenhang mit dem Hier und Heute noch keinesfalls klar ist. Sein Handeln in dieser Situation ist völlig anders. Er geht einfach auf das Ziel zu, das er als Vision vor Augen hat, dessen Zusammenhang aber mit dem aktuellen Moment in keiner Art und Weise ersichtlich ist. Schurtenberger (1983) hat dies in seiner Dissertation sehr schön an der Wirtschaftspolitik Mao Zedong’s dargestellt. Diese fand immer nach einem trial and error Prozess statt, man hat sich langsam dem Ziel genähert (siehe wiederum Graphik 3, S. 39, östliches Muster). Die so verursachten Schäden waren zum Teil enorm, weil man sich eben nicht an den potentiellen Problemen orientiert hatte, sondern lediglich am zukünftig zu erreichenden Ziel.
    Andererseits hat mich dieses östliche Verhalten aber immer auch deshalb fasziniert, weil es ein sehr starkes Vertrauen in die Zeit beinhaltet – die Zukunft wird mir die Möglichkeit geben, meine Vision zu verwirklichen – und durch ein sehr starkes Selbstverständnis gekennzeichnet ist – ich habe die Fähigkeit, diese, meine Sichten, auch zu verwirklichen. Mir fehlen in den heutigen westlichen Gesellschaften sehr oft sowohl Vision wie Selbstverständnis, wobei ich hier gesundes Selbstverständnis meine, nicht Überheblichkeit, wie sie im neonationalen Sinn heute leider manchmal an die Oberfläche geschwemmt wird.
    Dieses andere Angehen der täglichen Wirklichkeit und der Umgang mit der Zukunft weisen auf ein anderes Risikoverhalten hin. Sozialstruktur, Sozialdynamik und andere Denkmuster machen es tatsächlich in China unmöglich, risikobeschränkend im westlichen Sinn zu planen. Die einzige Möglichkeit, Risiken zu beschränken, besteht in diesem fliessenden Umfeld in den Personenbeziehungen. Hier liegt ein anderer, wichtiger Grund, warum das Beziehungsnetz so fundamental ist. Nur über ein gut funktionierendes Beziehungsnetz werden die Informationen verfügbar, die es erlauben, Gefahren oder Chancen rechtzeitig zu erkennen. Auf Anzeichen von Veränderungen wird deshalb sofort angesprochen. Wie ein Fisch im Wasser die Strömung mit seinem Seitenlinienorgan erspürt, erfährt die chinesische Person die Veränderung des Umfelds und reagiert ebensoschnell. Die in der Graphik 3 (S. 39) dargestellte Entwicklungslinie ist deshalb nie so gerade und so lang wie die Zukunftssicht

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