Leitfaden Homöopathie (German Edition)
potenzierter Arzneien nach dem Ähnlichkeitsgesetzes ( Kap. 2.1.1 ) hinaus gibt es in der Homöopathie eine eigene Theorie der Krankheitsentstehung und -entwicklung. Sie basiert auf Beobachtungen von Krankheits- und Heilungsverläufen, wurde von Hahnemann entwickelt und u.a. von Kent ( Kap. 10.3 ) und John Henry Allen weiter ausgearbeitet. Die Beobachtung der Gesetzmäßigkeiten des Krankseins und des Heilens, die Wahrnehmung von Krankheitsentwicklungen über das gesamte Leben eines Menschen, die Erkenntnis übergeordneter Symptomzusammenhänge – entweder gemäß der inneren Logik der Arzneimittel oder der miasmatischen Zusammenhänge innerhalb der Symptomatik des Patienten – und die Einsicht in das gesetzmäßige Wirken der Lebenskraft eröffnen dem homöopathischen Arzt Möglichkeiten der Behandlung, die über das Reparieren von Lokalbeschwerden oder die zeitweise Unterdrückung von aktuellen Beschwerden weit hinausgehen.
Um dieses Wissen in der Praxis nutzbringend einsetzen zu können, muss der Behandler mit der homöopathischen Krankheitslehre vertraut sein. Deren Kernpunkte sind:
Die Lehre von den akuten (= akute Miasmen) und chronischen Erkrankungen (= chronische Miasmen),
Die Differenzierung der chronischen Erkrankungen in Psora, Pseudopsora (Tuberkulinie) Syphilis und Sykosis,
Der stadienhafte Verlauf dieser chronischen Miasmen.
Im Wesentlichen hat die Lehre von den chronischen Krankheiten seit Hahnemann keine Veränderungen erfahren, wohl aber können einige seiner Postulate unter dem Licht moderner Forschung neu verstanden werden.
Bestimmung wichtiger Begriffe
Miasma
Hahnemann formulierte den Begriff „Miasma“ zu einer Zeit, als Krankheitserreger – und was man heute unter ihnen versteht – noch nicht bekannt waren. Mit Miasma (griech.: Befleckung, Schmutz; Ansteckungsstoff) beschrieb man damals auch in der Schulmedizin die Beobachtung, dass durch einen unbekannten Vorgang der Übertragung (z.B. über die Luft) Infektionen von Mensch zu Mensch stattfanden, es aber dafür keine hinreichende Erklärung gab. Man sah bei akuten Epidemien (Masern, Mumps, Röteln, aber auch Pest, Cholera, Typhus etc.), wie sich die Erkrankung miasmatisch verbreitete und anscheinend von Mensch zu Mensch weitergegeben wurde, manchmal sogar ohne direkten Kontakt. Man vermutete eine Art giftiges Agens oder schädliche Dämpfe aus der Erde. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts fand die Wissenschaft mit dem Beginn der mikrobiologischen Forschung die Ursachefür die Übertragung von Krankheiten in pathogenen Mirkoorganismen und postulierte die These, dass jede akute Krankheit und Epidemie ihren spezifischen Erreger habe.
Chronische Krankheiten
Hahnemann erweiterte den Begriff des Miasmas schon in der vormikrobiologischen Ära auch auf die chronischen Krankheiten und ging grundsätzlich von der infektiösen (= miasmatischen) Natur sowohl der akuten als auch der chronischen Krankheiten aus. Diese Infektionstheorie findet heute Unterstützung durch die moderne Forschung, die nachgewiesen hat, dass es chronische Infektionskrankheiten (Retroviren, onkogene Viren, Slow Viruses, Prionen, HIV, Herpes, CMV, Hepatitis B, C, D, E etc.) und chronische Folgekrankheiten nach Infektionen (Autoimmunstörungen, rheumatische Erkrankungen etc.) gibt, die keine Selbstheilungstendenz aufweisen.
Lebenskraft
„Im gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper (Organism) belebende Lebenskraft (Autokratie) unumschränkt und hält alle seine Theile in bewundernswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Thätigkeiten, so daß unser innwohnende, vernünftige Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höhern Zwecke unseres Daseins bedienen kann.“ (Organon der Heilkunst, § 9)
Hahnemann betrachtete die Symptome von kranken Menschen als die sichtbar werdende Reaktion des Organismus auf diese Infektion und postulierte ein dynamisch energetisches Feld (nach Organon, § 11, bestimmt die verstimmte Lebenskraft den Organismus „zu so regelwidrigen Thätigkeiten […], die wir Krankheit nennen, denn dieses, an sich unsichtbare und bloß in seinen Wirkungen im Organism erkennbare Kraftwesen, giebt seine krankhafte Verstimmung nur durch […] Krankheits-Symptomen zu erkennen […].“ – die Lebenskraft, die als steuernde Instanz alle lebendigen Wesen durchdringt und „alle […] Teile in bewundernswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Tätigkeiten“ zusammenhält.“
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