Lelord, Francois
ziemlich gewagte Dinge zu tun, einfach nur um sich
als unsere Freunde zu fühlen. Und mit manchen befreundet man sich natürlich
auch selbst.«
»Und
dann?«, fragte Hector und ahnte bereits, was er gleich hören würde.
»Nun ja,
gelegentlich gehen diese Leute Risiken ein und liefern dir eine wirklich
wichtige Information. Und wenn deine Vorgesetzten diese Information dann nutzen
wollen, weißt du, dass die andere Seite trotz all unserer Vorsichtsmaßnahmen herausfinden
wird, wo die undichte Stelle lag - bei der Person, die geglaubt hat, dein
Freund zu sein, und die dir vertraut hat. Und dann musst du sie über die Klinge
springen lassen. Manchmal auch, um eine noch wichtigere Quelle zu schützen...«
Sie saßen
eine Weile schweigend da. Aristoteles hätte gesagt, dass bei solchen
Geschichten das Opfer eine Beziehung für eine tugendhafte Freundschaft gehalten
hatte, die letzten Endes nur eine Zweckfreundschaft gewesen war. Aber vielleicht
hatte Aristoteles unsere Fähigkeit unterschätzt, uns an jemanden zu binden,
selbst wenn wir es gar nicht so geplant haben.
»Ich bin
jedenfalls zufrieden, nicht mehr im Außeneinsatz zu sein«, meinte Jean-Marcel.
Und aus seinem Tonfall konnte Hector heraushören, dass Jean-Marcel ein paar
Sitzungen auf der Couch eines Kollegen vielleicht gutgetan hätten. Sicher war
das allerdings nicht, denn Studien hatten nachgewiesen, dass manche Leute über
ihre schlechten Erlebnisse besser hinwegkamen, wenn sie nicht mehr an sie
dachten, als wenn sie zu einem Therapeuten liefen und ihm davon erzählten. Wahrscheinlich
gehörte Jean-Marcel zu diesem Menschenschlag, und dennoch hatte er das
Bedürfnis verspürt, sich Hector anzuvertrauen, und dabei war Hector weder sein
Kollege noch sein Kampfgefährte.
Beobachtung
Nr. 8: Ein Freund ist jemand, dem du dich
anvertrauen kannst.
Er
schickte diese Bemerkung gleich noch an Clara, und sie antwortete ihm auf der
Stelle:
Sich
anvertrauen, na klar. Aber eigentlich habe ich nie so richtig verstanden,
weshalb uns das so guttut. Ich meine, weshalb es uns schon guttut, bevor der
Freund tröstende Worte an uns gerichtet hat. Du müsstest es doch wissen, das
ist immerhin Dein Job. Warum tut es uns gut, wenn wir uns jemandem anvertrauen?
Für Hector
war es schon ziemlich spät, er war müde, aber er schrieb zurück:
Wenn wir
uns jemandem anvertrauen, müssen wir die Situation erst einmal für uns selbst
beschreiben. Das führt dazu, dass wir einen gewissen Abstand zum Geschehenen
gewinnen und es dann mit weniger heftigen Emotionen verknüpfen. Es tut sogar
gut, wenn man sich seinem Tagebuch anvertraut, das ist bewiesen. Menschen, die
man bittet, ein traumatisierendes Erlebnis mit einem Maximum an Einzelheiten
schriftlich zu schildern, fühlen sich anschließend schlechter, aber einige
Wochen darauf im Allgemeinen besser.
Es
vergingen nur ein paar Sekunden, und schon hatte er Claras Reaktion auf dem
Bildschirm:
Eigentlich
brauchtest Du Deinen Patienten also gar nichts zu antworten, damit es ihnen
besser geht? Dann waren Deine Arbeitstage viel weniger anstrengend!
Hector war
plötzlich hellwach, als er Folgendes eintippte:
Sie
erwarten von mir aber mehr - genau wie übrigens Freunde, wenn sie einem ihr
Herz ausschütten. Aber was erwarten sie eigentlich genau?
Einige
Sekunden später:
Sie
möchten das Gefühl haben, anerkannt und geschätzt zu werden, ohne dass man sie
verurteilt. Ich vertraue mich dem Freund an, damit der zeigt, dass er mich
versteht, dass er fühlt, was ich fühle, und dass er mich noch immer mag. Ein
Freund (und ein guter Psychiater doch vermutlich auch) muss mir Sympathie oder
sogar Mitgefühl entgegenbringen, stimmt's?
Man
merkte, dass dieses Thema Clara wirklich inspirierte. Hector antwortete ihr:
Genau, man
nennt das »emotionale Unterstützung«: Du zeigst, dass du die Emotionen des
anderen verstehst und bis zu einem gewissen Grad selbst nachfühlst - wobei ein
Freund sie selbstverständlich stärker empfinden wird als ein Psychiater. Clara
reagierte sofort:
Meiner
Meinung nach bildet das den Grundstock einer wahren Freundschaft. Übrigens
heißt es schon bei Aristoteles, dass man sich mit seinen Freunden zusammen
freut, aber dass man auch ihren Kummer teilt. Und interessanterweise sagt er
auch Folgendes: Wenn wir das Wohl unserer Freunde wollen, dann möchten wir sie
nicht mit unserem Kummer beladen; wir wollen für sie keine Quelle von Leid
sein. Genau deshalb hat man die Psychiater erfunden - um seine
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