Lelord, Francois
Freiheit gelebt werden
sollte.
Hector merkte,
wie gern er Jean-Marcel wiedersah, und er fragte sich, ob er vielleicht ein
Freund war.
»Ah, jetzt
kommt das Wichtigste!«, sagte Jean-Marcel.
Die
Kellnerin hatte gerade eine kleine Suppenschüssel aus Ton gebracht, die eine
Art besonders flüssigen Haferschleim enthielt. Jean-Marcel füllte erst Hectors Trinkschale
und dann seine eigene.
»Auf unser
Wohl!«, sagte er.
Eine Suppe
war es nicht; es war kalt und erinnerte gleichermaßen an Cidre und an Milch,
mit einem leichten Prickeln auf der Zunge und einem bittersüßen Nachgeschmack.
»Köstlich«,
sagte Hector.
»Nicht
wahr? Es ist ein Reiswein mit Namen Makgeolli. Normalerweise trinkt man ihn
abends, aber leider habe ich heute Abend keine Zeit.«
Und er
schenkte ihnen nach.
Durchs
Fenster erblickte Hector einen kleinen Garten, in dem überall hohe, mit Deckeln
verschlossene Tonkrüge standen. Wurde der Makgeolli vielleicht dort draußen,
in der Kälte, aufbewahrt?
Es fiel Hector
noch einmal auf, dass Jean-Marcel gut und gern zehn Kilo zugelegt hatte; er
ähnelte immer mehr jener dickbäuchigen Version des Buddhas, die man in China so
oft findet, auch wenn Jean-Marcel sich dabei die Haltung des ehemaligen
Militärs bewahrt hatte. Er hatte Hector gerade seine Visitenkarte mit dem
Botschaftswappen hinübergereicht; »Zweiter Sekretär« war darauf zu lesen. Also
hatte er den Beruf gewechselt - oder wohl eher die Aufgabe im selben Beruf. Er
gehörte nicht mehr zu den Leuten, die man heimlich in ein gefängnisartig
abgeriegeltes Land schickte, damit sie jemanden herausholten, der fürs eigene
nationale Interesse kostbar und wichtig war, oder damit sie nachts in ein
Hafengebiet eindrangen, um herauszufinden, was ein bestimmtes Frachtschiff
geladen hatte (und es bei Bedarf sinken zu lassen), oder damit sie es so
einrichteten, dass ein Terroristenführer, der sich in einem befreundeten Land
in Sicherheit wähnte, nichtsdestotrotz einen schlimmen Autounfall hatte. Nein,
er hatte an Jahren und an Pfunden zugenommen, und inzwischen kümmerte er sich
wahrscheinlich eher darum, solchen Personen zu helfen, wenn sie in seiner
Weltgegend gerade auf Mission waren. Vor allem liefen bei ihm Informationen zusammen,
die gewisse Personen auf seine Anweisung sich von anderen Personen holten,
besonders von jenen, die aus Gefängnisstaaten kamen und in diesem befreundeten
Land Zuflucht suchten, manchmal aber auch von denen, die noch in den Gefängnisstaaten
lebten, und das war zweifellos sehr kompliziert.
Sie
tauschten ein paar Neuigkeiten über ihr heutiges Leben aus, und siehe da,
diesmal waren sie beide glücklich verheiratet. Dann kam Jean-Marcel, ohne
lange zu fackeln, zum eigentlichen Gegenstand ihres Treffens. Eine Woche zuvor
hatte Hector ihm einen Brief mit dem Namen und der Beschreibung der schönen
Polizeioffizierin zukommen lassen.
»Dem
Regiment unbekannt«, sagte Jean-Marcel auf seine militärische Art.
»Sie meinen...«
»Bei
Interpol hat es niemals eine Person dieses Namens gegeben und auch niemanden,
auf den Ihre Beschreibung passt.«
Hector hatte
das in letzter Zeit ja schon geschwant, aber nun die leicht erschreckende
Bestätigung für diese Ahnung zu bekommen, war doch noch mal etwas anderes.
»Und im
Übrigen ist ihr Vorgehen gegen alle Regeln gewesen«, fügte Jean-Marcel hinzu.
»Sie hätte in Begleitung eines Vertreters der nationalen Polizei zu Ihnen
kommen müssen.«
»Sie
meinte, es würde die Dinge vereinfachen.«
»Das
riecht alles andere als gut«, sagte Jean-Marcel.
Als
wollten sie diese etwas finstere Bemerkung abdämpfen, nahmen sie beide erst
einmal ein paar Schlucke Makgeolli.
»Die
eigentliche Frage lautet doch: Wem hat Ihr Freund diese ganze Knete geklaut?
Wissen Sie, ich habe ganz gute Verbindungen zu den Polizeibehörden etlicher
Länder, auch zu denen, die sich für Finanzstraftaten interessieren. Na ja, und
...«
Jean-Marcel
hielt einen Moment inne, um zu überlegen, was er preisgeben durfte - eine
Situation, in der er sich wohl häufig befand.
»... es
hat keine Wellen geschlagen, nicht den geringsten Wirbel verursacht. Offenbar
ist dieser beträchtliche Diebstahl von niemandem gemeldet worden, es ist
nirgendwo Anzeige erstattet worden. Nun, wenn ich der Kunde einer Bank wäre,
die meine Millionen einfach so verschwinden lässt, dann würde ich schon ein
bisschen Krach schlagen!«
»Ich
auch«, sagte Hector und lachte in der Hoffnung, das würde ihn entspannen,
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