Lelord, Francois
schon so lange befreundet, das macht es immer schwierig, von
der Freundschaft zur Liebe überzuwechseln. Jeder hat wohl die leise Angst, eine
echte Freundschaft, dieses so rare Gut, zu verlieren, sie für etwas
einzutauschen, das alles andere als ein rares Gut ist: eine Liebesaffäre, die
womöglich keine Zukunft hat.
Das passte
auch auf eine andere Situation: Selbst wenn Sie sich vom neuen Partner Ihres
Freundes oder Ihrer Freundin ziemlich angezogen fühlen und voll Entzücken
bemerken, dass es da eventuell die Spur eines Anfangs des Beginns von
Gegenseitigkeit geben könnte, sollten Sie diese Liebe trotzdem der
Freundschaft opfern und so tun, als hätten Sie gar nichts gemerkt, oder besser
noch auf eine lange Reise gehen. (Falls es Ihnen nicht gelingen sollte, der
Versuchung zu widerstehen, können Sie sich freilich immer noch vor sich selbst
rechtfertigen, indem Sie sich sagen, dass dieser Freund oder diese Freundin
sowieso nicht zu den besten Freunden
gezählt hatte, und nachträglich beschließen, dass es nur eine Zweck- oder
Vergnügensfreundschaft war, die laut Aristoteles ohnehin zu erkalten drohte,
sobald das Vergnügen, der Liebhaber der einen zu sein, größer wurde als das
Vergnügen, der Freund des anderen zu bleiben.) Wenn Sie sich aber einen Hauch
von Tugend bewahrt haben, bekommen Sie natürlich Schuldgefühle, jene mächtigen
Fesseln der sexuellen Freiheit.
Während Hector
darüber nachsann und sein Notizbüchlein aufklappte, untersuchte Valerie das
Foto mit einer Lupe; sie konzentrierte sich dabei auf die silbernen Halsketten
der jungen Frauen. Hector aber beschloss, einen Ausflug auf den Balkon zu
machen, um sie nicht abzulenken.
Da er sich
im südlichen Asien befand, schlug ihm sofort drückende Hitze entgegen. Die
Stadt der Engel dehnte sich unter einer dunstverhangenen Sonne aus wie ein
unordentlicher Garten - mit Baumgruppen aus funkelnden Türmen, die
emporzuwachsen schienen aus der Mitte von Beeten, auf denen man noch alte
Holzvillen erkennen konnte, Märkte unter freiem Himmel, von Palmen verdeckte
Gärten, einen Kanalabschnitt, der noch nicht unter einer Straße verschwunden
war, wenngleich sich über ihn auch schon eine Schnellstraße spannte oder vielleicht
der höchst moderne Skytrain. Oder man konnte diese Stadtlandschaft als ein
Resümee der Entwicklung Asiens über ein Jahrhundert hinweg lesen - von den
hölzernen Pfahlhäusern der Dörfer bis zum Wolkenkratzer aus polarisierendem
Glas. In der Ferne war die silberne Biegung des Flusses auszumachen, und Hector
sagte sich, dass er Valerie zu einem Gläschen auf die Terrasse des Grand
Mandarinal einladen würde, des großen alten Hotels, das alle Berühmtheiten des
vergangenen Jahrhunderts erlebt hatte. Dann würden sie den Booten nachschauen,
die mit Blumengirlanden geschmückt im Abendlicht vorüberglitten.
Er
bedauerte es ganz besonders, dass Clara nicht mitgekommen war, denn Clara und
Valerie verstanden sich ausgezeichnet. Damals, als Hector sie einander vorgestellt
hatte, war er ein bisschen nervös gewesen, aber sie hatten sich von Anfang an
so unterhalten, als würden sie sich seit Jahren kennen.
»Ich
hab's!«, rief Valerie.
Hoch leben
die Superfrauen, dachte Hector.
Er
verabredete sich mit Valerie für ein paar Stunden später im Grand Mandarinal.
Und während er im Taxi zurück in sein Hotel fuhr, schrieb er in sein
Notizbüchlein:
Beobachtung
Nr. 10: Wahre Freundschaft setzt man nicht für die Liebe aufs Spiel.
Hector lernt eine Wahrheit kennen
Von da an lief überhaupt nichts mehr wie geplant.
Als Hector
wieder in seinem Hotel war, sah er, dass der Anrufbeantworter des
Zimmertelefons blinkte. Er hatte drei Nachrichten:
»Lieber Hector,
Valerie hat mir gesagt, dass du gerade hier Station machst. Es wäre mir ein
Vergnügen, dich zu sehen.« Das war die Stimme eines alten Kollegen und
Freundes, der schon vor Jahren in dieses Land übergesiedelt war und den Hector seit
Ewigkeiten nicht gesehen hatte. Dabei hatten sie sich einmal sehr nahegestanden.
Neben Edouard und Jean-Michel war Brice einer von Hectors besten Freunden gewesen.
»Lieber
Doktor, es wäre gut, wenn wir uns träfen. Können Sie mich bitte zurückrufen?«
Das war Leutnant Ardanarinja - unter einer hiesigen Handynummer!
»Lieber
Doktor, können Sie sich bitte so rasch wie möglich bei mir melden?« Das war
Maria-Lucia, die Assistentin von der Lady und, wie Hector seit jeher fand, die
einzige normale Person in ihrem Umfeld.
Am Telefon
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