Lelord, Francois
gefallen.
Hector kann nicht schlafen
In der Dunkelheit des Schlafraums erklärte Brice Hector, weshalb
die Lady seiner Ansicht nach eine heftige bipolare Störung hatte, die einzige
Erklärung für ihre plötzlichen und schnell aufeinanderfolgenden
Stimmungsumschwünge.
Brice
wollte gern mit zu den Dreharbeiten kommen, er wollte die Lady unbedingt
kennenlernen. Hector spürte, dass es seinen Freund an sein früheres Leben
erinnerte, als er der Psychiater der Berühmtheiten gewesen war und man ihn zu
Premieren eingeladen hatte, weil die Leute aus der Filmbranche bei ihm in
Behandlung waren.
»Nach dem,
was du mir erzählt hast, hat sie sogar eine bipolare Störung mit
Rapid-Cycling-Verlauf«, sagte Brice, »und nicht bloß eine Persönlichkeitsstörung.«
Hector musste
zugeben, dass dies eine ziemlich gute Idee war. Brice konnte immer noch
exzellent diagnostizieren, sogar wenn er den Patienten nicht direkt erlebt
hatte. Aber natürlich spürte Hector bei ihm auch einen so heftigen Wunsch, der
Lady zu begegnen, dass er es beinahe bedrückend fand. »Hör mal, ich werde ihr
davon erzählen, dass du hier bist, und dann werden wir sehen, ob sie
einverstanden ist.«
»Nimm mich
doch einfach mit und stell mich ihr vor«, meinte Brice, »so ist es leichter.«
»Ich finde
das ein bisschen aufdringlich«, sagte Hector.
»Aber ich
bin sicher, dass ich ihr sofort gefallen würde.«
»Schon
möglich. Weißt du, wir entscheiden das morgen.«
»Okay«,
sagte Brice, und seine Stimme klang hoffnungsfroh.
Hector wäre
gern eingeschlafen, aber man muss dazu sagen, dass sie beide auf dem Fußboden
des Klassenzimmers lagen; man hatte die Tische und Stühle einfach an die Wände gerückt.
Zwei oder drei übereinandergelegte Matten mussten als Matratze herhalten und
ließen Hector das banale und deshalb zu selten beachtete Glück, auf einer
richtigen Matratze schlafen zu dürfen, schmerzlich vermissen. Das Moskitonetz,
das er sich vors Gesicht gezogen hatte, verströmte einen widerlichen Geruch
nach Insektentod; er hatte das Gefühl, gleich ersticken zu müssen. Er schwor
sich, seine Ausrüstung für die nächste Reise sorgfältiger zusammenzustellen,
aber würde es überhaupt eine nächste Reise geben? Vielleicht mit Clara und
Petit Hector?
Er wälzte
sich auf die andere Seite und begann an Edouard zu denken und an die Varak.
Nachdem Valerie und Pater Jean das Foto noch einmal ausgiebig inspiziert
hatten, waren sie nämlich übereingekommen, dass sich Edouard bei einem ganz
besonderen Stamm des Volkes der Varak befand - bei den Varak Lao, welchen die
britischen Entdecker den Beinamen »die wilden Varak« verpasst hatten.
Die Varak
Lao gehörten zu den Völkern, für die sich die Forschungsreisenden des
vergangenen Jahrhunderts sehr interessiert hatten, und Beispiele ihrer Kunst
konnte man in zahlreichen Museen Europas finden. Diese Kunstwerke waren von
den cleversten Forschern heimgebracht worden - jenen, welchen die Varak Lao
die Rückreise gestattet hatten, statt sie zu Sklaven zu machen und/oder ihnen
den Kopf abzuschlagen, denn so ein schöner frischer Kopf verhieß eine gute
Ernte und fruchtbare Frauen.
Die
Zentralmacht ließ die Varak in Ruhe, solange sie nicht offiziell ihre
Abspaltung erklärten und einen eigenen Varak-Staat gründeten. Ihre Tradition
als Krieger (und, geben wir es ruhig zu, auch ein bisschen als Kannibalen) und
die besonderen geografischen Gegebenheiten ihrer Region - dschungelbedeckte
Hügel, bei denen es sich selbst eine Großmacht zweimal überlegt hätte -
hielten die Generäle der weit entfernten Hauptstadt davon ab, Händel mit ihnen
zu suchen. Außerdem wussten die Varak schon lange, dass sie sich Freunde in der
Regierung schaffen konnten, wenn sie ihre Einnahmen aus dem
grenzüberschreitenden Handel mit Holz, Menschen, Edelsteinen und Drogen gerecht
mit ihnen teilten. Solche realistischen Verbindungsleute würden die law-and-order-Fanati ker schon
beruhigen, falls diese auf die schlechte Idee kommen sollten, aus den Varak
ganz gewöhnliche Staatsbürger machen zu wollen.
Edouard
hatte sich vermutlich mit Bedacht dafür entschieden, ausgerechnet zu den Varak
Lao zu gehen, die noch auf traditionelle Weise lebten anders als ihre übrigen Varak-Verwandten,
die sich in den Tälern niedergelassen hatten und deren Anführer in japanischen
Geländewagen umhersausten und über ihre Satellitentelefone die neuesten
Bestellungen aufgaben. Die Varak Lao hatten sich inmitten der Varak-Region
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