Lelord, Francois
haben, muss man zwanzig Kilometer zurücklegen.«
»Dank
eines großzügigen Spenders konnten wir uns gerade ein Satellitentelefon
anschaffen«, sagte Pater Jean, »aber der Betrieb ist sehr teuer, und so
benutzen wir es nur im Notfall.«
»Die Leute
hier haben also keinen Zugang zu Konsumgütern?«, fragte Brice.
»Nein«,
antwortete Pater Jean, »fast keinen. Die Entfernung, über die man die Waren
heranschaffen müsste, die Kosten ... Sie träumen auch noch nicht so sehr vom
Konsum, sie haben ja kein Fernsehen. Aber das wird nicht ewig so bleiben ...«
»Ein Leben
nach Epikur«, meinte Hector. »Natürliche und notwendige Vergnügungen -
Freundschaft, Familie, ausreichend Nahrung und die Schönheit der Natur.«
»Mit einem
Unterschied«, sagte Pater Jean. »Epikur und seine Freunde hatten ihre
Haussklaven, während hier jedermann den ganzen Tag arbeitet. Bauen Sie mal
Reis an einer Bergflanke an...«
»Aber wird
sich das nicht alles bald ändern?«, fragte Valerie.
»Natürlich.
Wir versuchen ihnen zu helfen, sich auf diese Veränderung vorzubereiten. Sie
sollen gewappnet sein für das Leben in der Stadt. Aber im Moment ist es noch
so, dass selbst die jungen Leute, die zum Studieren oder Arbeiten in die Stadt
gehen, alle wieder zurückkehren, um hier zu heiraten und im Dorf zu leben. Anfangs
hat mich das erstaunt. Noch haben die Menschen hier sentosa.«
»Sentosa?«
»Eine der
buddhistischen Tugenden«, sagte Valerie. »Die Zufriedenheit mit dem, was man
hat.«
»Ja«,
sagte Hector, »und Fernsehen und Werbung sind für nichts anderes geschaffen, als
in uns das Verlangen nach Sachen zu wecken, die wir nicht haben.«
»Meine
lieben Freunde«, bemerkte Brice, »die gesamte Weltwirtschaft beruht auf dem
Gegenteil von sentosa!«
»Also
indem man den Leuten einredet, dass sie mit einem neuen Handy glücklicher wären
- und erst recht, wenn sie es früher als die Nachbarn haben?«, fragte Valerie.
»Genau.«
»Hier
teilen die Menschen noch alles«, sagte Pater Jean. »Fürs Erste sind sie noch
geschützt. Wer in die Stadt geht, kehrt nicht allzu verändert zurück. Bisher jedenfalls
... Möchten Sie noch ein wenig?«, fragte er Brice, der auf das Ragout gestarrt,
aber nicht gewagt hatte, sich die letzte Portion zu nehmen.
Hector sagte
sich, dass Pater Jean bestimmt eigene Ansichten über die Freundschaft und über
den heiligen Thomas von Aquin hatte. Er wollte das Thema gerade anschneiden,
als Valerie das Foto von Edouard hervorholte und vor Pater Jean auf den Tisch
legte.
»O
Barmherzigkeit!«, sagte Pater Jean.
»Finden
Sie auch, dass unser Freund krank aussieht?«
»Ich weiß
nicht. Vielleicht muss man das sein, um ausgerechnet dorthin zu gehen.«
»Sind das
Varak?«, wollte Valerie wissen.
»Ja.
Kennen Sie die?«
»Nein. Ich
hatte zwar schon Kunstgegenstände von ihnen in der Hand, aber selbst bin ich
nie dorthin gereist.«
»Die Varak
sind ein Volk von Kriegern«, sagte Pater Jean. »Die K'rarang haben Angst vor
ihnen. Eigentlich haben alle Angst vor ihnen, selbst die Generäle der Regierung
dort jenseits der Grenze. Im Grunde bilden sie einen kleinen Staat für sich,
und die nationale Armee setzt ihren Fuß nicht in diese Region. Sie haben lieber
Abkommen mit ihnen ausgehandelt.«
Was für
eine exzellente Idee, sich bei Leuten zu verstecken, die aller Welt Angst
machen, dachte Hector. Edouard war wirklich noch genauso verrückt und genauso
intelligent wie früher. Seine eigenen Fragen zum heiligen Thomas von Aquin
blieben wohl bis auf Weiteres unbeantwortet. Aber nach dem Essen konnte Hector dank
des Satellitentelefons eine Mail von Clara lesen.
Mein Liebster,
Du hast kürzlich erwähnt, dass Du
Dich mit jemandem über den heiligen Thomas von Aquin unterhalten hast. Ich hab
mein Abiturwissen wieder hervorgekramt, und es stimmt, er hat wirklich über
die Freundschaft geschrieben. Ich hab noch mal nachgelesen; die Passagen über
die Freundschaft stecken in seinen Schriften über die Caritas, die zusammen mit dem Glauben und der Hoffnung eine
der drei christlichen Kerntugenden ist. (Entschuldige, dass ich hier so
doziere, aber ich weiß doch, dass Du dieser Materie eher fernstehst.) Die Caritas bezeichnet im Grunde die Liebe zu Gott und auch die
Liebe zum Nächsten, und um es auf einen Nenner zu bringen: Wir alle sind die
Freunde Gottes. Das ist ziemlich schwer zu erklären, also gehe ich jetzt lieber
ins Bett.
Gottes
Freund, dachte Hector - das würde Roger bestimmt
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