Lemmings Himmelfahrt
Gedanken, Gefühle … Aber die Art, wie der Robert mich angesehen hat … Ich hab gewusst, dass er bei sich ist. Ich hab es immer schon gewusst. Man hat dann Versuche gemacht, Gehirnströme gemessen, was weiß ich … Und schließlich, nach langer Zeit erst, haben auch die Ärzte eingeräumt, dass es möglich wäre … Kurz gesagt: Mein Mann ist nicht bewusstlos, verstehen Sie? Er ist nur ohnmächtig … Machtlos eben …»
«Das
Locked-in-Syndrom
…»
«Sie haben also schon davon gehört.» Rebekka Stillmann wendet sich wieder dem Lemming zu.
«Ja, anscheinend …» Vorsicht, Lemming, Vorsicht. Nicht in die Falle tappen, die du dir wieder mal selbst gestellt hast. Er legt die Stirn in Falten. Streicht kurz und scheinbar gedankenverloren mit der Hand darüber. «Ich weiß nicht … Wollen Sie sich nicht setzen?»
«Nein … Nein danke.» Sie sieht auf ihre Armbanduhr. «Ich werde mal nachschauen, wo Simon mit dem Doktor bleibt.» Der Blick des Lemming begleitet sie, als sie das Zimmer verlässt, ohne sich noch einmal umzudrehen. Diese Frau, so denkt er im Stillen, ist ein Paradoxon, ein wandelnder Widerspruch wie viele Menschen: Je tiefer das Schicksal sie beugt, desto aufrechter gehen sie durchs Leben …
Und was für ein Schicksal:
Locked in
. Der Lemming kennt diesen Ausdruck allerdings. Er hat ein Buch darüber gelesen, ein Buch, das eines der Opfer dieser Krankheit nur mit dem linken Augenlid diktiert hat, dem einzigen noch beweglichen Teil seines Körpers. Robert Stillmann dürfte nicht einmal dazu fähig sein. Ein wacher Geist, gefangen im eigenen lebenden Leichnam, eingesperrt, abgehakt, keines wie immer gearteten Ausdrucks mehr fähig. Und Rebekka? Die eigene Liebe, den eigenen Mann so nahe und wach, denkend und fühlend zu wissen, ohne sein Denken und Fühlen je teilen zukönnen, muss die Hölle sein, vergleichbar, nein schlimmer noch als die Qualen des Tantalus. Siebzehn Jahre kein zärtliches Wort, keine sanfte Berührung, aber auch kein heilendes Vergessen, kein erlösender Tod. Was tut ein geknebeltes Hirn siebzehn Jahre lang? Fällt es dem Wahnsinn anheim? Betritt es den Raum, den Buddhisten Nirvana nennen? Oder spielt es virtuelle Schachpartien, deren genialische Züge Karpov und Kasparov wie einfältige Bauerntölpel dastehen ließen?
Plötzlich wird dem Lemming bewusst, dass er sich unwohl fühlt, seit Rebekka Stillmann aus dem Raum gegangen ist. Es kommt ihm so vor, als könne er die Seele des Mannes neben sich
spüren
. Keine zwei Meter entfernt schlägt ein Herz, denkt ein Kopf, sendet ein Wesen Signale aus, unsichtbare, vielleicht sogar bedrohliche Signale. Wäre es nicht denkbar, dass ein zu lebenslanger Stummheit verdammter Geist einen Ausweg in übernatürlichen Praktiken sucht? Dass er es vielleicht sogar schafft, die Mauern seines düsteren Gefängnisses mit den Mitteln der Telepathie und der Psychokinese zu sprengen?
Der Lemming hievt seine Beine aus dem Bett und versucht aufzustehen. Seine Knie knicken weg. Diese Schwäche, diese Benommenheit: ein Voodoo-Zauber Robert Stillmanns? Er stützt sich auf den Nachttisch und beugt sich zu seinem Nachbarn hinüber, bis er ein schmerzhaftes Ziehen in der Armbeuge spürt. Die Kanüle, natürlich, von der ein dünner Schlauch zu einem Säckchen auf dem Bettgalgen führt: Das ist die Schattenseite des Krankenhausdaseins, das ist der Preis, den man für ein sauberes, trockenes Bett inklusive Vollpension zu zahlen hat.
Robert Stillmann hat als Dauergast entsprechend höhere Kosten zu tragen. Sein Körper ist gleich mehrfach verkabelt: Ein Schlauch steckt in seinem linken Arm, ein zweiter, etwas dickerer führt unter die Decke; wahrscheinlich ein Harnkatheter,vermutet der Lemming angesichts des halb gefüllten Plastikbeutels an der Seite des Bettgestells. Von Stillmanns Mittelfinger reicht ein dünnes Kabel bis hin zu einem Monitor, der neben dem Bett aufgebaut ist. Knapp unter Stillmanns Kehlkopf, in dem Spalt zwischen Kissen und Decke gerade noch sichtbar, befindet sich ein weiterer, offenbar ungenutzter Anschluss, ein mit Klebeband befestigtes Röhrchen, das aus seiner Halsgrube ragt. Robert Stillmann wirkt wie ein Auto beim Tausend-Kilometer-Service, ein auf der Hebebühne festgenagelter Wagen, dem gleichzeitig Wasser zugeführt und Öl abgelassen, dessen Ladestand überprüft und dessen Luftdruck kontrolliert wird. Mit dem Unterschied allerdings, dass man dem Fahrzeug nach dem Check die Freiheit wiedergibt,
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