Lemmings Himmelfahrt
während Stillmann seine Zulassung für immer verloren hat.
Der Lemming versucht, einen Blick auf Stillmanns Gesicht zu erhaschen. Eine schmale, leicht gebogene Nase erhebt sich über das Kissen, blassgrau die Haut, fein geädert wie Pergament, und darüber ein dichter Kranz tiefschwarzer Haare. Der Lemming reckt und streckt sich, stellt sich auf die Zehenspitzen, und endlich sieht er, was er sehen wollte: Stillmanns Augen, Stillmanns kleine Fenster, die in die Tiefen seines Kerkers führen.
Die Augen stehen offen. Weit offen. Die Pupillen fast unnatürlich zur Seite gedreht, starren sie den Lemming durchdringend an.
Auf der Stelle weicht er zurück, als habe man ihm einen Schlag versetzt. Seine Hände greifen ins Leere; er strauchelt, verliert das Gleichgewicht und fällt rücklinks auf seine Matratze. So erschrocken und zugleich beschämt hat er sich wohl zuletzt als Kind gefühlt, wenn er beim Stehlen von Naschwerk ertappt wurde. Voll Schuldbewusstsein, aber auch erleichtert, Stillmann nun wieder hinter dem schützenden Kissenhorizontzu wissen und der stummen Intensität seines Blicks nicht mehr ausgesetzt zu sein, kriecht der Lemming unter die Decke.
«Entschuldigen Sie», murmelt er kleinlaut. «Ich wollte nicht …» Ja, was eigentlich?
Ich wollte dich nicht begaffen wie ein Tier im Zoo? Wie einen Krüppel auf dem Jahrmarkt? Wie einen wehrlosen Häftling in der Todeszelle?
«Ich wollte Sie nicht stören … Ich war nur … neugierig …»
Endlich ein ehrliches Wort, auch wenn es vieles offen lässt. Dem Lemming scheint, dass er dem Häftling, dem Krüppel, dem Tier eine deutlichere Erklärung schuldet. Doch in diesem Moment wird die Tür aufgerissen und ein geschäftig wirkender junger Mann im weißen Ärztekittel rauscht herein.
«Sie sind also aufgewacht, wunderbar!» Er baut sich vor dem Bett des Lemming auf und rückt mit fahriger Hand seine randlose Brille zurecht.
«Helmsichl mein Name. Doktor Helmsichl. Wie geht es Ihnen? Wie fühlen Sie sich?»
«Ich, äh …»
Ohne die Antwort abzuwarten, ergreift der Doktor die Hand des Lemming und beginnt, dessen Puls zu fühlen.
«Na bitte. Das sieht doch hervorragend aus. Ich kann Ihnen jetzt schon versichern, dass Sie noch am Leben sind …» Ein schelmisches Zwinkern hinter den Brillengläsern. «Dann setzen Sie sich einmal auf und machen Sie sich frei.»
Der Lemming tut, wie ihm geheißen. Bald sitzt er mit hochgehobenem Krankenhemd auf der Bettkante und lässt sich von Helmsichl die Brust abklopfen. Der Doktor lauscht aufmerksam, um hin und wieder zustimmende Grunzlaute von sich zu geben. Gerade als er das Trommelfeuer seiner Fingerknöchel auf den Rücken des Lemming verlagern will, wird abermals die Zimmertür geöffnet.
Wieder flattert ein weißer Kittel in den Raum, dem zwei Gestalten in lindgrünen Poloblusen folgen, Krankenpfleger offenbar: ein Hüne, dessen Muskeln die Ärmel seines Hemdes zu sprengen drohen, und ein kleiner, gedrungener Kerl mit Halbglatze und missmutigem Gesichtsausdruck. Ein paar Schritte dahinter erscheinen nun auch Rebekka Stillmann und ihr Sohn.
«Ausgezeichnet, Herr Kollege, Sie haben also schon angefangen!» Der neu angekommene Arzt wirkt bei weitem entspannter als Doktor Helmsichl. Mag sein, dass dieser Eindruck von dem rötlich blonden Haarschopf hervorgerufen wird, der ungebändigt und wirr über der hohen Stirn wuchert. Vielleicht sind es aber auch die ausgeprägten Fältchen, die sich von seinen Augenwinkeln bis weit nach hinten zu den Schläfen verästeln, Tausende Lachfältchen, von jahrelanger, naturgewaltiger Fröhlichkeit in die sommersprossige Haut erodiert. Er tritt an das Krankenbett, nickt dem Lemming freundlich zu, legt Doktor Helmsichl sanft die Hand auf die Schulter und meint dann mit gesenkter Stimme: «Täten S’ mir einen Gefallen, Herr Kollege? Ich hab da einen ganz verzwickten Fall von … Kakophobie, und zwar chronisch, wie mir scheint – den würd ich gerne mit Ihnen besprechen …»
«Aber selbstverständlich, jederzeit!» Kollege Helmsichl scheint richtiggehend aufzublühen. «Wann sollen wir?»
«Sagen wir … in zehn Minuten, drüben in meinem Büro? Ich hab die Unterlagen schon bereitgelegt. Wenn Sie wollen, kann ich ja inzwischen Ihren Patienten …»
«Wenn er nichts dagegen hat …» Helmsichl richtet einen fragenden Blick an den Lemming; der aber schüttelt nur stumm den Kopf.
«Großartig. Dann in zehn Minuten …» Helmsichl erhebt sich
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