Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
ist Ihre Meinung?», fragt Doktor Tobler den Hünen, ohne auf den Ausbruch seines reizbaren Kollegen zu achten.
    «Wie Sie immer sagen, Herr Doktor   … Die Hoffnung stirbt zuletzt.»
    Tobler nickt, und sein Haarschopf wippt im Rhythmus mit.
    «Mag ja sein, dass Sie Recht haben, Emil. Vielleicht stirbt aber auch die Hoffnung irgendwann   … Wir machen’s also so: Falls der Balint bis morgen nicht wieder auftaucht, verlegen wir den Herrn   … Wie wollen S’ denn heißen?»
    «Äh   … Weiß nicht   …» Der Lemming ringt die Hände.
    «Den Herrn   … Odysseus in sein Zimmer. Sie wissen schon, Odysseus, der Grieche, der dem Zyklopen seinen Namen auch nicht verraten hat   …»
    «Weiß ich nicht», murmelt der Lemming.
    «Macht nichts   … Wenn Ihnen das recht ist und wenn unser Geigenvirtuose weiterhin verschollen bleibt, übersiedeln Sie morgen in den Haupttrakt   …»
    «Ja   … gut.»
    «Also abgemacht. Ach, und Theo   …»
    «Herr Doktor?» Der stämmige Theo nimmt Haltung an und senkt den Kopf wie in Erwartung einer Rüge.
    «Danke für den Tipp mit dem Balint. Wär ich nicht darauf gekommen   …»
    Tobler steht auf, wirft einen letzten prüfenden Blick zu Robert Stillmanns Bett hinüber und reicht dem Lemming die Hand.
    «Noch etwas, Herr   … Odysseus: Vom Kollegen Helmsichl brauchen Sie sich nicht mehr untersuchen zu lassen – es sei denn, Sie leiden an chronischer Kakophobie   … Der Herr Helmsichl ist nämlich erst vorige Woche zu uns gestoßen – als Patient.»
    Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht verlässt Tobler, Rebekka und Simon im Schlepptau, den Raum. Auch die beiden Pfleger folgen dem Tross, während der Streit zwischen ihnen erneut aufflammt.
    «Was willst wetten?», dringt das zornige Zischen Theos an die Ohren des Lemming. «Sag schon, Trottel! Was willst wetten?»
    «Mir doch wurscht, du Häusel   …»
    Und dann, im selben Augenblick, in dem die Zimmertür geschlossen wird, vernimmt der Lemming das Wort. Dieses Wort, das ihn trifft wie der letzte, verirrte Blitz einer flüchtigen Gewitterfront.
    «Nie im Leben, verstehst, nie wieder kommt die z’ruck, die Oblatenstirn   …»

10
    Es wäre falsch, zu behaupten, dass ich um jeden Preis anders sein wollte als die anderen, dass ich aufbegehren und mich widersetzen wollte um des Aufbegehrens und des Widersetzens willen. Trotz ist ein schlechterRatgeber; er zwingt den Trotzigen dazu, nein zu sagen, wenn er ja sagen möchte; er versklavt ihn nicht weniger als die Vorschriften, deren Joch er abstreifen möchte. Die Wahrheit ist, dass ich ebenso gut einen Weg hätte nehmen können, der bei den Engerlingen auf Lob und höchste Anerkennung gestoßen wäre: Ich hätte dann mein Leben den Leprakranken und Hungernden verschrieben oder der Rettung gestrandeter Wale. Und ich würde versucht haben, es ebenso makellos zu tun wie das, was ich stattdessen getan habe. Wirkliche Heilige, echte Narren und wahre Verbrecher sind die Einzigen, deren Denken Wert und deren Handeln Gewicht hat. Es ist also kaum von Belang, welchen Weg man nimmt. Wichtig ist nur, ihn rücksichtslos und ohne Zögern zu beschreiten.
    Noch im Waisenhaus begann ich, jenes Hirngespinst zu studieren, das die Menschen
Gewissen
nennen und das sie täglich aufs Neue erfinden, um den eigenen Geist zu versklaven. Bald erkannte ich, dass es selten die Androhung unmittelbarer Bestrafung war, die sie zur Redlichkeit trieb; fast immer ließen sich Tugend und Ethos auf eine Furcht zurückführen, älter als die Menschheit selbst: die archaische Angst nämlich, von der Herde ausgestoßen zu werden. Ich konnte und kann mir keine souveräne Sittlichkeit vorstellen, keine Sittlichkeit, die ohne Zwang gleichsam aus sich selbst entsteht. Das absurde Gerücht, es gebe eine höhere Ordnung, einen mächtigeren Leitsatz als den der Lust und der Willkür, des Fressens und Gefressenwerdens, muss von sehr alten, gebrechlichen Herdentieren verbreitet worden sein. Um nicht verhungern zu müssen, behaupteten sie, der bestirnte Himmel sei mit Göttern bevölkert, und zwangen dem ganzen Rudel deren ebenso über- wie unnatürliches moralisches Gesetz auf. Ein Gesetz, zu dessen ersten Geboten es freilich zählte, die altersschwachen Hohepriester der neuen Heilslehre zu ernähren und zu beschützen   …
    Dieser Herdentrieb, dieser unaufhörliche Drang nach Geborgenheit bleibt eines der großen mentalen Mysterien der Engerlingsmenschen. Von Geburt an todgeweiht, kennen sie kein höheres

Weitere Kostenlose Bücher