Lemmings Himmelfahrt
aus seiner Narkose erwachte.
Als ich in der Ferne die Lichter des Zuges erblickte, machte ich mich auf den Heimweg. Ich stellte die Schubkarre an ihren angestammten Platz in der Gärtnerei, stieg durch das offene Fenster in unser Zimmer und ging zu Bett.
Der Lokführer muss sehr aufmerksam gewesen sein. Wie wir am nächsten Tag erfuhren, entdeckte er den auf den Geleisen liegenden Körper, leitete – wenn auch zu spät – eine Notbremsung ein und rief, noch bevor der Zug zum Stillstand gekommen war, einen Rettungswagen.
Der Dicke kam erst viele Wochen später aus dem Krankenhaus. Wir bereiteten ihm einen festlichen Empfang, wir alle bis auf
Mutter
. Sie hatte gekündigt und uns als gebrochene Frau verlassen, denn sie gab sich alleine die Schuld an dem Unfall. Es stand außer Frage für sie, dass ihr Schützling nur deshalb unbewusst seine Route geändert hatte und statt zum Kühlschrank zum Bahndamm gewandelt war, weil sie ihn zwei Nächte davor so erschreckt hatte.
Der Dicke selbst war wie ausgewechselt. Er strahlte in seinem Rollstuhl wie ein halbierter Buddha. Als ich mich zu ihm hinunterbeugte, schlang er mir die Arme um den Hals und sagte: «Jetzt wissen sie’s. Jetzt wissen alle, dass ich nicht geflunkert hab …»
So gehen also Wünsche in Erfüllung. Der Dicke sah nicht nur seinen guten Leumund wiederhergestellt, ja sein gesamtes Prestige gehoben, indem er ein paar Kilo Beine verloren hatte; er würde darüber hinaus auch nie wieder schlafwandeln können. Den krönenden Abschluss fand seine Glückssträhne aber nur wenige Wochen später. Eines jener kinderlosen Pärchen, die uns ab und zu besuchten, nahm den Dicken mit und gewährte ihm Einlass in ihr kleines Familienhimmelreich. Warum ihn die beiden adoptierten, kann ich nur erahnen: Ich nehme an, sie taten es aus
Mitleid
. Die Menschen sind seltsam, und Gottes Wege sind unergründlich.
Was also mich betrifft, so war ich mehr als angetan von der Entwicklung der Dinge. Ich hatte etwas bewegt, in welche Richtung auch immer. Die Frage nach meinen Motiven ist völlig belanglos. Motive belasten stets den, der sie hat; mansollte sie daher tunlichst vermeiden. Meine einzige Absicht war es, das Außergewöhnliche wahr zu machen, um dessen Wirkung auf die Engerlingsmenschen, vor allem aber auf mich selbst untersuchen zu können. Und so stellte ich zufrieden fest, dass mich die Ängste und Sorgen, das Leid und die Freude der anderen auch in der Praxis nicht berührten. Die Luft war klar, mein Kopf war kühl hier oben, hoch über diesem affektiven Dschungel, der Gesellschaft heißt. Trotzdem – ich muss es zugeben – war ich noch ein wenig unsicher. Falls mein Geist doch noch unerwartete Grenzen aufwies, falls sich in einer entlegenen Falte meiner Seele doch noch ein Stückchen von dem verbarg, was die Menschen
Gewissen
nennen, so wollte ich es aufspüren und für immer vernichten.
11
Irgendwann hat ihn wohl der Schlaf übermannt. Es ist ihm entgangen, dass sie den Raum betreten hat, und so trifft ihn der schrille Klang ihres Organs unvorbereitet und mit voller Wucht. Sie, das ist eine schlingernde Fregatte, ein Schlachtschiff der ungebührlichen Mütterlichkeit, und ihre Kanonen feuern endlose Salven der Dummheit ab. Schwester Paula steht an Robert Stillmanns Bett, hantiert mit Schläuchen und Säckchen und spricht, nein,
lärmt
ohne Unterlass.
«Da sind wir aber brav gewesen, gell, da haben wir das Sackerl ganz voll gemacht!» Sie wiegt den gefüllten Urinbeutel und betrachtet ihn mit Kennermiene. «Und so eine schöne, gesunde Farbe haben wir gemacht! So mag ich das, gell, so mag das die Schwester Paula …»
In morphologischer Sicht, denkt der Lemming schlaftrunken, gleicht der pralle Beutel ihrem zitternden Doppelkinn.Ja, man könnte fast meinen, die Schwester halte sich einen Handspiegel vors Gesicht …
«Aber jetzt gibt’s was Gutes, ein gutes, leckeres Pappi, damit wir der Schwester Paula nicht vom Fleisch fallen …» Mit raschem Griff schlägt sie Stillmanns Decke zurück und legt dessen Unterleib frei. Eine Windel, eine lächerliche, viel zu groß geratene Babywindel, das ist das Erste, was dem Lemming ins Auge fällt. Dürre, verkümmerte Beine ragen daraus hervor, Beine, die kaum noch am Rumpf zu hängen scheinen, dann, weiter oben, ein schwammig gedunsener Bauch, der wohl seit Ewigkeiten kein Sonnenlicht mehr gesehen hat: Die Haut, die sich darüber spannt, ist knochenweiß. Zwischen Nabel und Brustbein wird ein weiterer
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