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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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das lose Ende des eigenen Fallstricks in die Hand. Ich bin sicher, er tat das, weil er sich von mir die Erfüllung eines lange gehegten Wunsches erhoffte: endlich einen Freund zu haben.
    Der Dicke litt. Und er litt nicht nur unter seinen nahrhaften Schlafstörungen. Der Ekel, den er vor seinem eigenen fetten Wanst empfand, überschattete längst seinen Geist, sein ganzes Wesen. Der Dicke fand sich rundum unerträglich. Vor allem aber – und das erregte mein Interesse am meisten – machte er sein Aussehen dafür verantwortlich, dass er keine Eltern mehr hatte.
    «Wer will so ein Walross schon?», meinte er immer wieder. «Kein Wunder, dass sie gegen einen Baum gefahren sind   …» Und dann sagte er: «Wenn ich wenigstens ein paar Kilo weniger hätte, wer weiß, vielleicht würde mich ja doch noch jemand adoptieren   …»
    Am folgenden Morgen sollten also
Mutters
Verhöre stattfinden, doch es kam nicht mehr dazu. Als sich der Dicke nochin derselben Nacht aus seinem Bett erhob und wie Frankensteins Monster hinaus auf den Flur trottete, schlich ich hinterher, um
Mutter
zu wecken, deren Zimmer auf halbem Weg zur Küche lag. Ich schlug ein-, zweimal gegen ihre Tür, lief rasch zurück und schlüpfte wieder unter meine Decke. Kurz darauf vernahm ich zwei spitze Schreie, das Klirren von Glas, gefolgt von hektischem Stimmengewirr. Lichter flammten auf, und nach einiger Zeit trat
Mutter
ins Zimmer, den verwirrten Dicken an der Hand, um ihn wieder ins Bett zu bringen. Ich selbst hatte die Augen geschlossen, stellte mich schlafend, aber ich konnte ihr besorgtes Gemurmel hören, als sie ihn zudeckte und sich an seinen Bettrand setzte, wo sie noch lange, bis tief in die Nacht, verharrte.
    Das Geheimnis war gelüftet, die Netze waren ausgeworfen.
    Mutter
machte sich Vorwürfe, weil sie den Dicken so abrupt aus seinem Zustand gerissen hatte, was man, wie sie anderntags in Erfahrung brachte, bei Schlafwandlern niemals tun soll. Sie befürchtete, ihrem Schützling durch den plötzlichen Schock einen seelischen Schaden zugefügt zu haben.
    Der Dicke seinerseits verging vor Scham. Er redete sich allen Ernstes ein, dass die anderen nun glaubten, er täusche seine Mondsucht nur vor, um ungestraft den Kühlschrank leeren zu können. Er wollte nichts weniger, als sein feistes Gesicht zu verlieren; seine größte Sorge galt seinem Ansehen. Ein paar Kilo weniger und ein guter Ruf, dafür hätte er alles getan.
    Was er selbst nicht zuwege brachte, das erledigte ich für ihn. Zwei Tage später waren meine Vorbereitungen abgeschlossen: Ich hatte am Bahnhof die Fahrpläne studiert, in den Büschen hinter dem Haus eine Schubkarre aus der benachbarten Gärtnerei versteckt, und ich hatte in einem unbeachteten Moment ein Fläschchen Äther aus dem Chemielabor meiner Schule abgezweigt, das nun gut verborgen unter meinem Kissen lag.
    Nachdem
Mutter
das Licht gelöscht hatte, wartete ich, bis mir die tiefen und gleichmäßigen Atemzüge des Dicken verrieten, dass er eingeschlafen war. Ich hatte bereits festgestellt, dass er sich nach längstens zehn Minuten auf den Bauch zu drehen pflegte, also war rasches Handeln geboten. Ich trat an sein Bett, breitete vorsichtig ein Taschentuch über sein Gesicht und beträufelte es mit Äther. Er merkte nichts, blieb ruhig und unbewegt liegen; es war das reine Kinderspiel für mich.
    Viel schwieriger war es schon, ihn aus dem Haus zu schaffen. Ich war sicher, dass
Mutter
voll der Sorge in ihrem Zimmer lauerte, unablässig an der Tür lauschend und bereit, ganze Regimenter schlafwandelnder Kinder sanft zurück in ihre Betten zu geleiten. Der Weg durch den Flur blieb mir also versperrt. Dass unser Zimmer im Erdgeschoss lag, war in diesem Fall von Vorteil. Ich schleifte den Dicken zum Fenster und versuchte, ihn möglichst leise ins Freie zu wuchten, was mich einigen Schweiß kostete und ihm einige Schrammen einbrachte. Obwohl es mir erst beim dritten Anlauf gelang, lag ich immer noch gut in der Zeit; der letzte Zug in die Stadt würde die Station um ein Uhr verlassen, und so blieb mir mehr als eine Stunde, um die Sache zu Ende zu bringen.
    Wir erreichten den Bahndamm um Viertel vor eins, ich und der Dicke, der regungslos in der Schubkarre ruhte. Ihn meinem Plan entsprechend auf den Schienen zu drapieren war wohl der – künstlerisch betrachtet – anspruchsvollste Teil der Unternehmung. Es galt, eine Position zu finden, die er selbst dann nicht allzu sehr verändern würde, wenn er noch kurz vor der Operation

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