Lemmings Himmelfahrt
Ziel als zwischenmenschliche Nähe und soziale Sicherheit. Sie ringen beharrlich darum, verzweifelter oft als um Gesundheit oder Leben; in der kurzen Zeit, die ihnen bleibt, spinnen sie erstaunlich filigrane, unentwirrbare Netze aus emotionalen Beziehungen und Abhängigkeiten, und sie scheinen nichts lieber zu tun, als sich selbst darin zu verstricken. So legen sie sich aus freien Stücken die Fußfesseln der Nächstenliebe an, um nicht von jenem engen Pfad abzukommen, den sie den
rechten Weg
nennen und der schon deshalb so ausgetreten, so unfruchtbar ist, weil er sie immer nur im Kreis führt. Der
rechte Weg
ist wohl der einzige, der nie für mich infrage kam; er ist die geistige Sackgasse der Zauderer.
Demzufolge blieb der Tanz in jenem süßen Fettnäpfchen, das die Menschen als
Büchse der Pandora
bezeichnen und das sie fürchten und meiden wie die Pest, mir alleine vorbehalten. Ich musste keine Netze spinnen; es reichte, die ihren auszuwerfen. Allerdings hatte ich längst begriffen, wie unvernünftig es war, sich offen gegen die Regeln zu stellen. Im Gegenteil: Je fügsamer ich nach außen hin wirkte, desto bunter konnte mein Geist im Geheimen blühen. Mein Vergnügen an der Welt sollte ja lange währen, statt vorzeitig in einer Gefängnis- oder Gummizelle zu enden. Ich gab mich also umgänglich und verschaffte mir so den Spielraum für weiterführende Studien und Experimente.
Seit der Entdeckung meines
Ich
waren knapp zwei Jahre vergangen, als ich beschloss, erstmals den Schritt in die Praxis zu wagen. Mein Zimmerkollege brachte mich auf die Idee, und obwohl ich nicht ganz sicher war, einem Versuch dieser Größenordnung schon gewachsen zu sein, schien mirsein Angebot doch zu verlockend, um es auszuschlagen. Er war ein blonder Knabe, etwas jünger als ich, aber fast doppelt so schwer. Eine seiner hervorragendsten Eigenschaften, die nicht zuletzt auch seinen Körperumfang begünstigte, war der Umstand, dass er zu schlafwandeln pflegte. Ich weiß nicht, wie oft ich des Nachts vom Klatschen seiner nackten Sohlen geweckt wurde, die sich durch den finsteren Flur in Richtung Gemeinschaftsküche entfernten. Einem Aufsatz über Somnambulismus habe ich Jahre später entnommen, dass Kühlschränke und Vorratskammern zu den wichtigsten Anziehungspunkten der Schlafwandler zählen. Auch wenn sie sich noch spätabends den Bauch voll geschlagen haben, entwickeln sie bei ihren nächtlichen Ausflügen ein unstillbares Hungergefühl.
Die ungewollten Raubzüge des Dicken sollten schon bald für Aufruhr sorgen. Bei dem Waisenhaus, in dem uns Bett und Verpflegung gewährt wurden, handelte es sich nämlich um kein Waisenhaus im herkömmlichen Sinn. Es war vielmehr ein Waisendorf, das mehrere über eine parkähnliche Anlage verstreute Häuser umfasste. In jedem dieser Gebäude lebten sechs bis acht elternlose Kinder, betreut von einer Frau, deren Muttertrieb folglich den Rahmen des Üblich-Neurotischen zu sprengen pflegte. Die jüngeren von uns besuchten tagsüber die Volksschule in der nahe gelegenen Ortschaft, die älteren fuhren mit dem Zug in die Stadt, wo es mehrere Hauptschulen und ein Gymnasium gab. Ab und zu fand ein Wagen den Weg zu uns, dem ein jüngeres Pärchen entstieg – potenzielle Adoptiveltern, die das Angebot an fremdgefertigtem Nachwuchs prüfen wollten. Meistens spazierten sie im Dorf umher und taten so, als bewunderten sie die Landschaft, während sie die spielenden Kinder mit Seitenblicken taxierten.
Im Vergleich zu anderen Institutionen dieser Art lebten wir also in relativ kleinen Gruppen zusammen. So kam es auch,dass unserer so genannten
Mutter
der nächtliche Schwund an Lebensmitteln nicht verborgen blieb. Statt aber nahe liegende Maßnahmen zu ergreifen, wie etwa ein Schloss am Kühlschrank anzubringen, zog sie es vor, ihre Schäfchen einzeln ins Gebet zu nehmen. Sie wollte ein Geständnis hören, und sie wollte – gemäß dem Paradoxon sanfter Erziehung – den nächtlichen Dieb dazu
zwingen
, es
freiwillig
abzulegen.
Der Dicke litt. Obwohl er sich nie unmittelbar daran erinnern konnte, wusste er um seine nächtlichen Eskapaden, und er wusste auch, dass ich darum wusste. Umso dankbarer war er mir dafür, dass ich noch am selben Tag versprach, sein Geheimnis für mich zu behalten. Er war so gerührt, dass er sich nicht darauf beschränkte, einfach nur dankbar zu sein: Er schüttete mir gleich sein ganzes, weiches Herz aus. Er enthüllte mir den wahren Umfang seiner Verzweiflung und drückte mir so
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