Lemmings Himmelfahrt
Anschluss sichtbar, ein weiteres Loch in Robert Stillmanns geschundenem Körper, das die Schwester nun mit einem losen Schlauchende stopft. Eine Magensonde, vermutet der Lemming. So wird sein Nachbar also aufgetankt …
«Mahlzeit! Und brav aufessen, sonst kriegen wir ein schlechtes Wetter!» Schwester Paula bricht in fröhliches Gelächter aus und tätschelt Robert Stillmanns Wange. «Nicht bös gemeint, gell? Auch Spaß muss sein, weil ohne Spaß hätten mir gar nix mehr zum Lachen, wir zwei …»
Es geht noch eine Zeit lang so weiter: Während der Lemming sich schlafend stellt, um Schwester Paulas Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen, wird Robert Stillmann einer unbarmherzigen Wartung unterzogen, akustisch untermalt von einer noch weit gnadenloseren Tirade der Entwürdigung. Nachdem «das Pflanzerl fertig gegossen» ist, wird das «Winderl» gewechselt, das «Popscherl» wird gewaschen und das «Zumpferl», welches die Schwester auch launig als «junges Gemüse» und «Spargel» bezeichnet; nach dieser «kleinen Wurzelbehandlung» macht sie sich daran, das «Unkraut», also die «Nagerln», zu schneiden, die ja «im Wildwuchs vorsich hin wuchern», was «nur bei den ganz schlimmen Buben so ist». Zu guter Letzt jagt Schwester Paula Robert Stillmann eine Spritze in den Oberschenkel, Insulin offenbar, denn «das dürfen wir nicht vergessen, dass unser zuckerkrankes Pflanzerl auch gedüngt werden muss».
Der Teufel scheißt immer auf denselben Haufen, denkt der Lemming: Eine einfache Lähmung befriedigt ihn nicht; er muss Robert Stillmann auch noch Diabetes schicken. Und er liefert ihn zudem einer Frau aus, die nicht mehr in ihm sieht als eine vegetative Lebensform, eine Zimmerpflanze, die man von Zeit zu Zeit abstauben muss. Der Teufel scheißt immer auf denselben Haufen, und er scheint Robert Stillmann für eine Latrine mit unbegrenztem Fassungsvermögen zu halten. Der Lemming fühlt sich plötzlich wie ein Glückspilz neben ihm, ein Schoßkind der Götter, dem nichts mehr passieren kann mit solch einem zuverlässigen Blitzableiter an seiner Seite. Und wirklich: Wie um seine absonderlichen Gedanken zu bestätigen, schickt ihm das Schicksal noch in der Sekunde die Rettung vor Schwester Paulas drohender Zuwendung.
«Der da drüben ist Ihrer, Schwester Ines; der passt eh grad zu Ihnen, ist auch so ein Schlafmützerl, so ein tranhappertes. Den tun wir rasieren, dass er was gleich schaut, gell, und dann rüber zum CT. Na? Was stehen wir noch herum?»
Schwester Ines ist die Stille in Person. So lautlos hat sie den Raum betreten, dass der Lemming ihr Kommen gar nicht bemerkt hat. Erst als sich eine kleine Hand auf seine Schulter legt, um ihn sanft wachzurütteln, öffnet er die Augen.
«Gut geschlafen?»
«Ja … gut.»
«Ich bin Schwester Ines. Wir werden jetzt entbarten.»
Dunkle Haut, Mandelaugen. Ein mächtiges Goldkreuz um den schlanken Hals.
«Woher kommen Sie, Schwester?»
«Von Philippinen.»
Der elektrische Rasierer summt leise über sein Kinn, seine Wangen. Behutsam zieht Schwester Ines die Haut straff, streicht Haare aus der Stirn, wischt ab und zu einen gefallenen Bartstoppel vom Aufschlag des Nachthemds. Schwester Paula hat inzwischen das Zimmer verlassen; Ruhe kehrt ein und Entspannung; es tut gut, wenn der Schmerz in den Ohren nachlässt. Sanfte Massage stattdessen, schlanke, zarte Finger, die über das Gesicht des Lemming tanzen …
«Gut so. Sie sind wieder Schönmann.» Schwester Ines schaltet den Rasierer ab. «Wir werden jetzt untersuchen gehen.» Sie verlässt das Zimmer und kehrt kurz darauf mit einem Rollstuhl zurück, den sie an das Bett des Lemming schiebt.
«Schwester?»
«Ja?»
«Ich würde mir gerne die Zähne putzen …»
«Ah ja … Sie haben Bürste?»
«Nein … Ich glaube nicht.»
«Macht nichts. Wir werden holen und nachher putzen.»
Mit wenigen Handgriffen entfernt sie den Schlauch aus der Armbeuge des Lemming, greift ihm dann unter die Achseln und stützt ihn mit ungeahnter Kraft, während er sich über die Bettkante gleiten und in den Rollstuhl sinken lässt. Müde und langsam sind seine Bewegungen, auch die Bewegungen des Geistes; er zweifelt längst daran, dass diese Trägheit nur gespielt ist – die Rolle des schwerfälligen Amnestikers scheint ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Schwester Ines stülpt ein Paar Filzpantoffeln über seine Füße, breitet dann eine Wolldecke über ihn und steckt sie mit flinken Fingern
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