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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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seine Stimme aus dem Nebenzimmer. Der Lemming aber wendet sich ab und vergräbt das Gesicht in den Händen. Er atmet tief und langsam, bis sich die zitternden Muskeln entspannen. Minutenlang hat er dem Tod ins Auge geblickt, einem der hässlichsten Tode, die er sich vorstellen kann, und er ist ihm gerade noch von der Schippe gehüpft. Leopold Wallisch, am Weg zum Schafott, in letzter Sekunde begnadigt   … Er fühlt sich auf einmal unendlich lebendig, und das verwundert ihn mehr als alles andere. Ein Tumor? Ein weißes Ei im Gehirn? Warum nicht? Man liegt von Geburt an im Sterben; man muss damit rechnen, solange man lebt. Aber nie zuvor war dem Lemming bewusst, wie sehr man an diesem Leben hängen kann.
    «So! Voilà! Das ist der Kopf von unserem Gedächtniskrüppel! Ein kleiner Druck auf die
Enter-
Taste, und schon ist er pumperlg’sund! Kein Karzinom, kein Hämatom und kein Ödem – die reine Wunderheilung, was?»
    «Du bist so ein Arschloch   … so ein Arschloch   …»
    Ganz leise spricht die Ärztin, schon fast im Flüsterton, aber der Lemming kann sie immer noch hören, und nicht nur hören: Er sieht sie auch bildhaft vor sich, wie sie vornübergebeugt am Schaltpult sitzt, blass und gedemütigt, während ihr Herr und Gebieter neben ihr auf den Sohlen wippt und mit verschränkten Armen auf sie herabschaut.
    «Vielen Dank für die fundierte Diagnose, Frau Kollegin. Eineweitere Demonstration deiner unübertroffenen Professionalität. Ich kann nur hoffen, dass ich
mein eigenes
Arschloch bin   …»
    Für einen Moment herrscht Stille, und alles deutet darauf hin, dass Lieselotte Lang aus Mangel an weiteren Argumenten in Tränen ausbrechen wird. Aber so ist es nicht.
    «Weil wir gerade von Professionalität sprechen», meint sie mit schneidender Stimme, «ich nehme an, du hast die Polizei schon informiert?»
    «Wovon? Von unserem amnestischen Neuzugang?»
    «Stell dich nicht blöd. Du weißt ganz genau, worauf ich hinauswill. Oder ist der Herr Direktor neuerdings zu beschäftigt, um die Zeitung zu lesen?»
    «Keine Ahnung, was du meinst. Den Balint vielleicht? Wirst sehen, der ist spätestens heut Abend wieder da. Wahrscheinlich hat er das Grab von seiner Frau besucht   …»
    «Du   … Du bist wirklich unglaublich.» Die Ärztin stößt ein kurzes, zynisches Lachen aus. «Der Mord am Naschmarkt ist dir also entgangen?»
    Der Lemming horcht auf, rückt wieder näher, drückt das Ohr ans Türblatt.
    «Erstens», antwortet der Doktor jetzt, «ist noch nicht klar, ob das wirklich der Buchwieser war, und zweitens geht uns der Buchwieser nichts mehr an.»
    «Ach! Geht uns also nichts mehr an! Und dass der Nestor Balint justament in der Nacht vor dem Mord das Weite sucht, ist nur ein Zufall, oder?»
    «Willst du damit sagen, dass   …»
    «Allerdings. Und wenn du nicht so eine Scheißangst um deine Reputation hättest, würdest du die Möglichkeit auch in Betracht ziehen. Du weißt es genau: Der Balint hat den Buchwieser nie riechen können. Aber so richtig ausgerastet ist er erst, nachdem der Buchwieser gekündigt hat. Urplötzlich,fast so, als hätt ihm der Buchwieser was weggenommen oder so. Vielleicht hat er das ja auch, vielleicht hat’s ihm ja Spaß gemacht, dem Balint noch einmal kräftig eins auszuwischen, quasi als Abschiedsgeschenk!»
    «Natürlich! Klar! Dass ich nicht darauf gekommen bin! Der Balint ist der Profikiller, den die Polizei sucht; deshalb hat er immer diesen ominösen Geigenkoffer herumg’schleppt. Und deshalb hat er ganz genau gewusst, wann und wo er den Buchwieser antreffen kann, um ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen. Natürlich nicht, ohne ihm vorher noch rasch den
Traurigen Sonntag
gefiedelt zu haben! Wenn ich so reich wäre, wie du blöd bist   …»
    «Du willst also nicht anrufen?»
    «Nein, ich werd nicht anrufen. Wenn das in die Zeitung kommt, können wir zusperren, verstehst? Auch wenn die G’schicht am Ende sowieso nicht stimmt. Egal. Eine üble Nachred, und zwar für nix und wieder nix, das wär alles, was wir davon hätten   …»
    «Bravo, Herr Direktor. So hab ich mir das gedacht. Der Balint steckt wer weiß wo, wahrscheinlich bis zum Hals im Dreck, und es ist dir egal. Der Neue, der Amnestiker, wird sicher bald von seiner Familie gesucht, vielleicht gar für tot gehalten, aber auch das ist dir wurscht   …»
    «Dem Balint geht’s gut, das kannst mir glauben. Der macht grad einen Einkaufsbummel in der Mariahilferstraße und kommt morgen mit einem Koffer voll

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