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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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  … Du wirst aber Zeit haben müssen   … Weißt du, wie wurscht mir das ist   … Nein, du schaust dir das jetzt an   … Ja, sofort!» Die Frau Doktor knallt den Hörer auf die Gabel und wendet sich um.
    «Kleines Momenterl nur», meint sie ruhig. «Der Chef wird gleich da sein   …»
    Der Puls des Lemming geht nun merklich schneller. Er kann das Pochen seines Herzens hören, während er sein Hirn betrachtet.
    «Können Sie mir nicht   …»
    «Gleich, Herr Odysseus, ich möcht nur rasch eine zweite Meinung einholen   …», fällt ihm die Ärztin ins Wort. «Aber Sie können mir einen Gefallen tun und im Nebenzimmer warten   …»
    Warten also. Sitzen und warten. Warten, das ist die Hauptbeschäftigung der Kranken. Warten auf Genesung, warten auf den Tod. Man sitzt und liegt, man wartet und man
wird
gewartet, während die Zeit verrinnt. Baden, Essen, Fiebermessen, ein leerer Tropf, ein voller Topf, zweimal täglich frische Betten und Tabletten auf Tabletten   … Das Warten auf Wartung verleiht den Tagen des Siechtums Struktur, Morgen- und Abendvisite sind gewissermaßen die Gezeiten der Bettlägerigen. Man kann die Uhr danach stellen, die innere Uhr mit all ihrer Unruh, während das Leben an einem vorüber-, aus einem hinausfließt. Warten und Wartung, ein ewiger Kreislauf, dem der Kreislauf über kurz oder lang nicht gewachsen ist   …
    Der Lemming läuft im Kreis. Nichts und niemand kann ihn mehr in seinem Rollstuhl halten. Wie ein Löwe im Käfig zieht er seine Runden, geht an der Mauer entlang bis zur Ecke, biegt ab zum Hocker, zum Bett und kehrt endlich wieder zur Wand zurück. Als die Tür vom Flur her geöffnet wird, läuft er um ein Haar dagegen.
    Der Mann, der den Raum betritt, trägt keinen Ärztekittel. In Anzug und Krawatte tritt er auf den Lemming zu. Streckt ihm die Hand entgegen. Unter seinem angegrauten Schnurrbart ist ein gönnerhaftes Grinsen festgeklebt.
    «Grüß Gott und herzlich willkommen   … Wir haben uns noch gar nicht kennen g’lernt   … Sie sind also der arme Mensch, der heut früh das Malheur g’habt hat, draußen im Wald   …» «Jaja», murmelt der Lemming verstört, «ich weiß nur nicht, ob   …»
    «Sie müssen ja auch gar nix wissen, dafür sind S’ ja Amnestiker. Das Wissen können S’ ruhig uns überlassen   … Jetzt hab ich glatt vergessen, mich vorzustellen, Eberhard Lang, Doktor Eberhard Lang. Ich hab die Ehre, unser kleines Sanatorium leiten zu dürfen. Ein schönes Platzerl, nicht wahr? Hoffentlich gefällt’s Ihnen bei uns   …»
    Der Lemming überlegt eine Antwort. «Ja», sagt er, «aber ich   …»
    «Na, wunderbar. Wenn S’ irgendwelche Probleme haben, können S’ immer zu mir kommen, ja?»
    «Dann sagen Sie mir bitte   …»
    «Sodala, jetzt muss ich aber   …» Doktor Lang wirft einen Blick auf seine Armbanduhr, wendet sich ab und betritt das Nebenzimmer.
    «Schön, dass es dich auch noch gibt!» Die Stimme der Ärztin klingt zickig und spitz.
    «Was hast denn schon wieder   …»
    Der Doktor drückt die Tür ins Schloss.
    Zwei, drei eilige Schritte bringen den Lemming in Lauschposition. Er beugt sich vor und presst die Schläfe ans Schlüsselloch. So dringen die Worte gedämpft, aber deutlich genug an sein Ohr.
    «Was schon wieder los ist, frag ich   …»
    «Nichts Wichtiges   … Nur ein intrakranieller Tumor, faustgroß, also eine Bagatelle. Entschuldige, dass ich dich deshalb gestört hab   …»
    «Der Neue?»
    «Ja, der Neue.»
    «Lass sehen   …»
    Eine Zeit lang hört der Lemming gar nichts. Dann das wiederholte Tippen flinker Finger auf der Tastatur.
    «Weißt du was?», murmelt der Doktor schließlich.
    «Was?»
    «Wir machen noch eine. Noch eine CT   …»
    «Du meinst, mit Kontrastmittel?»
    «Nein. Ich mein, wir machen eine von dir, mein Schatzerl. Nur um zu schauen, ob du überhaupt noch ein Hirn hast. Weißt du, was das ist?»
    Lotte Lang gibt keinen Ton von sich, und so beantwortet ihr Mann die Frage selbst.
    «Das ist die letzte CT vom Lederer, und der Lederer hat vorfünf Monaten die Patscherln g’streckt. Jetzt liegt er am Grinzinger Friedhof drüben. Grüß euch, die Maden, servus, die Wurm! Übrigens fehlt mir noch wer für unsere Wäscherei, also wenn du nicht einmal fähig bist, den Computer zu bedienen   … Oder soll ich dir die
Enter-
Taste rot anstreichen? Das ist die große da rechts, Frau Professor!
Enter
, verstehst,
Enter

    Der Herr Doktor hat sich warm geschimpft. Immer lauter tönt

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