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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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ermüdenden Deutschunterrichts, wenn draußen vor den Fenstern schwer und grau der Nebel lag. Es war immer winterlich düster während der Deutschstunden, jedenfalls kommt es dem Lemming in der Rückschau so vor. Trotzdem scheinen sich Teile des damals Gelernten eingeprägt zu haben; jetzt tauchen sie aus den Tiefen des Vergessens auf. Der Blankvers, so rekapituliert er, ist ein meist reimloser Jambenvers, der zunächst in der englischen, später dann auch in der deutschen Dichtkunst Verwendung fand. Allerhand, Lemming, eine beachtliche Leistung nach all der Zeit.
    «So schönes Sprechen   …» Schwester Ines hat sich vorgebeugt und flüstert dem Lemming ins Ohr. «Hanno sprecht immer so schön, sprecht wie altes Buch, aber immer ganz echt, nicht auswendig   …»
    «…   doch lasst uns nun der Worte Ende finden. Willkommen in den Hallen von
Walhall
…»
    Ansatzlos dreht sich der dicke Hanno um, setzt sich schnaufend in Bewegung und stampft die Rampe hinauf. DerLemming wird hinter ihm hergerollt, und sein Gesichtsfeld beschränkt sich jetzt auf diesen Ausbund an Monstrosität, auf diese unbeschreibliche Kehrseite, die da in Augenhöhe hin- und herwogt wie ein Dampfer bei Windstärke zwölf. So fährt der Lemming ins Zentrum der Klinik ein, mit nichts im Gesicht als Hannos Arsch und dem Ausdruck vollkommener Resignation.
     
    Er kann sich seiner ersten Eindrücke von
Walhall
nicht mehr so ganz entsinnen. Ein Schwächeanfall hat ihn übermannt, eher geistig als körperlich und daher unbemerkt von Schwester Ines, die ihn durch das Foyer geschoben hat. Eine Mischung aus historistischem Gepränge und moderner Funktionalität, so viel ist ihm noch im Gedächtnis, ein großzügiges Vestibül, von dem Gänge und Treppen und Fahrstühle zu weiteren Räumen und Fluren führten. Zwei offene Telefonzellen unter einem mächtigen, goldgerahmten Gemälde, das die Belagerung Wiens durch die Türken zeigte: ein ausgedehntes Zeltlager vor den Toren der befestigten Stadt. Der grüne Gürtel um Wien war zu dieser Zeit noch unverbaut gewesen; Döbling und damit der Himmel hatte damals noch den Muselmanen gehört   …
    Die Vorhalle ist menschenleer gewesen, beinahe jedenfalls: In einer Ecke hat ein Mann gestanden, ein schmächtiger Mann mit schwarzen Haaren und großen Augen, und hat völlig reglos vor sich hin gestarrt. Vor den Aufzügen hat sich Hanno verabschiedet – sie hätten ohnehin nicht zu dritt in die Liftkabine gepasst. Er hat so etwas gesagt wie:
    «Nun müssen unsre Wege wohl sich scheiden, doch nicht für ewig trennt uns das Geschick: Wenn denn die Sterne wieder günstig stehen, dann mögen gnäd’ge Winde sich erheben und uns einander in die Arme wehen   …»
    Dann sind sie hochgefahren, er und Schwester Ines, habenlange neonbeleuchtete Gänge durchmessen, um endlich vor einer Tür mit der Aufschrift
Röntgen
Halt zu machen. Hier hat ihn die Schwester verlassen.
    «Ich muss zurück in Siegfried-Pavillon. Sie warten hier.»
     
    Eine Stunde, schätzt der Lemming, ist seither vergangen. Er sitzt und wartet, und er bemüht sich vergeblich, einen klaren Gedanken zu fassen. Wahrscheinlich, so denkt er, bin ich gar kein Simulant. Wahrscheinlich bin ich hier gerade richtig   … Mühsam bugsiert er den Rollstuhl näher an die Tür und klopft zaghaft. Kaum drei Sekunden später wird sie von innen aufgerissen.
    «Was   … Ach ja, Griechischstunde   … Herr Odysseus, net wahr? Der Kollege Tobler hat Sie schon avisiert. Na kommen S’ halt   …» Klein und athletisch ist die grauhaarige Frau, die nun hinter den Lemming tritt und ihn durch die Tür schiebt. Nicht älter als fünfzig, schätzt der Lemming. Aber auch nicht jünger. Sie parkt ihn neben einer hohen, mit grünem Tuch bespannten Liege, stellt einen Schemel vor ihn hin und setzt sich. Der Lemming betrachtet ihr breites Gesicht, die hohen Backenknochen, die weit auseinander liegenden, leicht schräg gestellten Augen. Ein Faun, fährt es ihm durch den Kopf, sie hat das Gesicht eines Fauns. Er findet es mehr als seltsam, im kargen Untersuchungszimmer einer Irrenanstalt auf den römischen Waldgott in Pumps zu treffen.
    «Lieselotte Lang ist mein Name. Wenn S’ unbedingt Liesel sagen wollen, dann bitte trotzdem nicht. Lotte allerhöchstens. Sie dürfen mich aber auch Frau Doktor nennen.»
    «Ach so   … Ich dachte   … Ich dachte, Sie sind ein Mann   …»
    «Ist mir noch nicht aufgefallen. Allerdings hab ich einen   …» Die Ärztin ringt sich ein

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