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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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niemanden.»
    «Ich weiß schon, nur   … vielleicht vermisst Sie jemand   … draußen, meine ich. Man sollte vielleicht die Polizei   …»
    «Es hat geheißen, Ihr Mann nimmt das in die Hand   …», meint der Lemming scheinheilig.
    «Ja   …» Lotte Lang gibt auf. «Ja. Sie haben Recht   …»
    Sie öffnet die Tür und schiebt ihn auf den Gang hinaus.
     
    Der Lemming wartet.
    Eingemummt in seine Decke sitzt er im Krankenhausflur und betrachtet die Pantoffeln, die Schwester Ines ihm gegeben hat. Oben an der Decke scheint eine Leuchtstoffröhre defekt zu sein; sie flackert in unregelmäßigen Abständen auf, summt müde vor sich hin wie ein sterbendes Insekt und erlischt wieder. Der Lemming bemerkt, dass seine Pantoffeln die Farbe ändern können. Eigentlich hat er sie ja für braun gehalten, doch im Neonlicht nehmen sie eine grünliche Tönung an. Er findet das abwechslungsreich, wenn auch nicht übermäßig. Er wartet. Der Lemming wartet.
    Später schließt er die Augenlider, um sie von innen zu betrachten. Immer wenn das Licht aufflammt, verjagt ein roter Schimmer die Dunkelheit auf seiner Netzhaut. Schwarz und rot, schwarz und rot, ein endloser Kreislauf – fast wie die jüngere Geschichte der österreichischen Innenpolitik, sinniert der Lemming. Schein oder nicht Schein, das ist die parlamentarische Frage   … Aber wer öffnet einem dann die Augen? Man muss es schon selbst tun   … Er tut es.
    Auf der anderen Seite des Flurs steht ein Mann.
    Schmächtiger Körperbau. Dunkle Haare. Große, glänzende Augen. Ein grauer, etwas zu weit geratener Anzug, makellos gebügelt wie das weiße Hemd. Es ist der Mann, den der Lemming schon in der Eingangshalle gesehen hat. Ein wenig gebeugt, die Arme leicht angewinkelt, so steht er und starrt auf das Türschild der Röntgenabteilung. Das Neonlicht flammt auf. Er blinzelt nicht. Der Mann steht völlig regungslos.
    «Grüß Sie   …» Keine Reaktion. Der Lemming setzt den Rollstuhl in Bewegung, rückt ihn ins Blickfeld seines Gegenübers.
    «Hallo?»
    Keine Antwort. Skulpturen antiker Heroen kommen dem Lemming in den Sinn, schweigende Standbilder mit ebenmäßigen, wunderschönen Gesichtern, aber die Pose dieses Mannes ist nicht heldenhaft. Er wirkt versunken, nach innen gekehrt, er wirkt, als wolle er seine Umwelt glauben machen, dass er gar nicht vorhanden sei. Aber auch das trifft nicht wirklich den Punkt: Dieser Mann scheint überhaupt nichts zu wollen, dieser Mann scheint keine Umwelt zu besitzen. In gewisser Hinsicht ist er das genaue Gegenteil von Robert Stillmann: der eine ein lebender Leichnam, dessen geistige Strahlkraft man deutlich zu spüren vermeint, der andere in aufrechter Haltung und trotzdem nur ein blinder Fleck, ein Stück Antimaterie. Ganz leise, fast unmerklich, gerät sein Körper nun in Schwingung; er beginnt, in kleinen Bewegungen vor- und zurückzupendeln, rhythmisch wie der Zeiger eines Metronoms.
    Und dann, plötzlich und unvermittelt, öffnet der Mann seine Lippen.
    «Selig alle Toten   …»
    Der Lemming lässt die Decke auf den Boden gleiten. Steht auf, nähert sich dem anderen bis auf wenige Zentimeter.
    «Was soll das heißen?», flüstert er.
    Stille.
    «Wie meinen Sie das? Was soll das heißen:
Selig alle Toten

    Doch der Mann starrt stumm am Lemming vorbei. Seine Lippen sind wieder versiegelt. Das Orakel schweigt.
    Nach einer Weile wendet sich der Lemming ab. Trottet zum Rollstuhl zurück.
    «Ein Irrenhaus», brummt er, und dann lauter: «Ein Irrenhaus! Ein Irrenhaus ist das hier!» Er ärgert sich. Wie schön, wenn chronische Verzweiflung akutem Ärger weicht.
    «Hauptsach, dass ma wissen, wo ma san!»
    Eine kleine, gedrungene Gestalt kommt eiligen Schritts den Gang entlang. Theo, der unwirsche Krankenpfleger, Theo, der Griesgram.
    «Und? Wart’ma schon lang? Macht nix. Na kommen S’, brav sein und hinsetzen, aber husch, husch!»
    Theo hebt hastig die Decke vom Boden auf, knüllt sie zusammen und wirft sie dem Lemming auf den Schoß.
    «So, und jetzt zudecken, dass uns der Beidl net abfriert   … Und du? Was machst du da heroben?» Er wendet sich an den schweigsamen Mann, der noch immer die Tür des Untersuchungszimmers fixiert. «Solltest du net beim Essen sein? Oder brauchst a persönliche Einladung? Vorwärts marsch, jetzt mach, dass d’ weiterkommst zu den anderen! I kann mi net um alles kümmern!»
    Seine Worte rufen keine Reaktion hervor. Der Schmächtige wippt. Und starrt. Und wippt.
    «Depperter   …»

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