Lemmings Himmelfahrt
weißer Handschuhe z’rück … Und der Neue hat den Jackpot geknackt: kostenloser Urlaub
Unter den Ulmen
… In zwei Tagen ist der wieder g’sund, sagt danke und geht nach Hause. Und falls es doch länger dauert, wird sich schon eine andere Lösung finden. Also reg dich gefälligst ab und kümmere dich um deinen eigenen Schmarren …»
Der Lemming weicht zurück. Streitgespräche können jederzeitzu Ende sein; das weiß er nur zu gut. Man sagt nicht
Bis später
oder
Mach’s gut
, man verzichtet bewusst auf den höflichen Schnörkel am Schluss eines Wortgefechts; die Disharmonie gehört zur Dramaturgie der Wut. Und der Lemming wünscht sich nichts weniger, als vom zornigen Doktor Lang beim Lauschen ertappt zu werden. Doch er wartet vergeblich darauf, dass die Tür geöffnet wird; noch ist das Duell nicht vorbei.
«Du richtest dir’s also wieder …», hört er die Ärztin leise sagen. «Wie immer …»
«Worauf willst du hinaus?» Die Stimme des Doktors nimmt nun einen drohenden Klang an.
«Das weißt du genau. Wir wissen beide, wie du zu deinen Pfründen gekommen bist …»
«Ach so … Du wärmst die alte Scheiße also wieder auf. Dass dir nicht fad wird … Sechzehn Jahre lang wäschst du dieselbe schmutzige Wäsche, obwohl’s nicht einmal deine eigene ist. Ich sag ja, ich könnt noch eine Putzfrau brauchen, unten in der Wäscherei; wär das nicht was für dich?»
Es ist so weit. Eberhard Lang reißt die Tür auf und tritt dem Lemming entgegen; das joviale Lächeln unter den gestutzten Schnurrbarthaaren hat sich um keinen Deut verändert.
«So, mein Lieber», meint er fröhlich, «alles halb so wild, kein Grund zur Sorge. Und wie gesagt …» Ohne den Satz zu beenden, eilt er weiter, rauscht am Lemming vorbei und verlässt das Untersuchungszimmer.
13
«Kommen S’ rein …»
Lotte Lang sitzt grau und gebückt auf ihrem Sessel. Sie scheint um Jahre gealtert zu sein.
«Na, kommen S’ nur», murmelt sie und senkt den Blick, «ich beiß schon nicht …»
Der Lemming trottet näher, verwirft sofort die Idee, auf der Liege des Tomographen Platz zu nehmen, und bleibt vor der Ärztin stehen.
«Ja, also … Es tut mir sehr Leid …», beginnt sie jetzt. Sie wiegt den grauen Haarschopf hin und her, faltet die Hände im Schoß. Dann deutet sie zum Bildschirm hin, auf dem nun ein neues, ein anderes Bild zu sehen ist. Makellos symmetrisch wie einer jener Tintenkleckse Hermann Rorschachs, des Schweizer Psychiaters, dessen hundert Jahre alter Wahrnehmungstest auch heute noch zu den Lieblingskindern verschrobener Schulpsychologen zählt.
«Und?», fragt der Lemming leise. «Was sehen Sie darin?»
«Nichts, Herr Odysseus, nichts. Keine Schwellung, keine Blutung …»
«Keinen Tumor?»
«Aber nein. Ich hatte nur vorhin …» Die Ärztin spricht nicht aus. Stattdessen springt sie vom Stuhl hoch, um den Lemming aufzufangen. Er hat die Hände vors Gesicht geschlagen, schwankt hin und her und droht der Länge nach aufs Linoleum zu kippen. Er spielt gut, der Lemming. Er weiß genau, was er tut. Er weiß, dass ihm das leibhaftige schlechte Gewissen gegenübersitzt, und er weiß auch, dass dieses kleine Dramolett das Schuldbewusstsein Lotte Langs ins Unermessliche steigert. Wie sonst soll man einen Arzt dazu bringen, sich auf das Gesprächsniveau gemeiner Sterblicher zu begeben?, denkt er. Wie sonst könnte ich dieser Frau meine Fragen stellen, ohne ein herablassendes Lächeln als Antwort zu erhalten? Der Lemming weiß, was er tut, und er tut, was er tun muss: Er schafft Harmonie zwischen sich und der Göttin in Weiß, indem er ihrem hohen Ross den Fangschuss gibt …
«Kommen S’ … Da, auf den Sessel …»
Jetzt ist er es, der am Schaltpult sitzt, und sie, die Frau Doktor, kauert neben ihm, unter ihm, und blickt zu ihm hinauf.So ist es gut. So soll es sein. Das schlechte Gewissen des Lemming hält sich in Grenzen, ausnahmsweise.
«Und ich dachte schon …», flüstert er.
«Ist ja gut. Alles ist gut, Herr … Wenn ich nur wüsst, wie Sie heißen … Aber Namen sind ja nicht so wichtig … Ich wollt Ihnen keine Angst machen, hören Sie? Es war mein Fehler … Ich glaub, ich steh im Moment ein bisserl neben mir …»
Der Lemming starrt auf den Boden. Hebt langsam den Kopf und blickt der Ärztin ins Gesicht. «Warum? Haben Sie Sorgen?»
«Ich … Ja … Wieso interessiert Sie das?»
«Weil … Weil ich mein eigenes Leben verloren
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