Lemmings Himmelfahrt
ist, ein selbstzerstörerisches Hirngespinst, der klassische Tagtraum eines Lemmings eben: Es sind Klaras Schenkel, die er sieht, und das virile Hinterteil von Rolf, dem Tierpfleger, wie es sich schmatzend dazwischen schiebt. Klaras Keuchen und Rolfs Röcheln verleihen der Vision den akustischen Pep …
Diesmal ist es nicht gespielt: Der Lemming hebt die Hand und wischt sich über die Augen, zweimal, dreimal, bis das hässliche Trugbild verschwunden ist. Was bleibt, ist die sichtbare Realität …
Die Tür geht auf, ein Mann tritt auf den Flur. Ein Mann, den der Lemming nicht kennt. An seinem Körper schlottert ein blauer Overall, auf dem Gesicht trägt er den Ausdruck entspannter Zufriedenheit. Ein breites, pockennarbiges Gesicht, aus dem zwei wachsame Augen blicken. Er geht dem Ausgang entgegen, ohne sich umzusehen, bleibt dann kurz stehen, greift sich an den Schritt und streckt das rechte Bein aus. Hüpft auf dem anderen ein paarmal auf und ab, knetet und schiebt, bis die Schwerkraft wieder alles ins Lot gebracht hat. Setzt seinen Weg schließlich fort. Linksträger, konstatiert der Lemming, als wäre er selbst Sherlock Holmes und die bevorzugte Lage fremder Gemächte von irgendeiner tieferen Bedeutung. Der blaue Overall tritt ins Sonnenlicht hinaus, bleibt abermals stehen, steckt sich eine Zigarette an, raucht genüsslich. Verschwindet endlich um die Ecke.
«Schwester!»
Der Lemming klopft und tritt ins Schwesternzimmer. Er hat eine Frage zu stellen, und er wird sie stellen, was und wer auch immer ihn daran zu hindern versucht.
Die weinrote Couch ist leer. Auf der anderen Seite des Raums, an einem Schreibtisch, über dem mehrere kleine Monitore flimmern, sitzt mit glühenden Bäckchen Schwester Paula. Sie lächelt.
«Entschuldigen Sie … Ich hätte eine Frage …»
Die gewaltige Speckschicht, von der die Schwester ummantelt ist, scheint ihr inzwischen auch über die Ohren gewachsen zu sein.
«Hallo? Darf ich kurz stören?»
Jetzt erst erwacht sie aus ihrer Verklärung und kehrt in die Gegenwart zurück. Langsam dreht sie den Kopf, bis sie den Lemming bemerkt; dann geht ein plötzlicher Ruck durch den mächtigen Busen: Sie springt auf die Beine.
«Sapperlot noch einmal! So ein Schlingel! Lauft mir da im Nachthemd durch die Gegend! Jetzt aber husch, husch in die Heia, sonst gibt’s was aufs Popscherl!»
Bedrohlich wogen Schwester Paulas Massen jetzt auf den Lemming zu, und er streckt beschwichtigend die Arme aus, während er zurückweicht, ganz allmählich, Schritt für Schritt.
«Schwester, bitte, nur ein Momenterl …»
«Nix da Momenterl! Im Zimmer haben wir ein Knopferl, das tun wir schön drücken, wenn wir was brauchen. Und dann kommt die Schwester Paula und bringt’s uns. Ins Schwesternzimmer dürfen wir als Patient schon gar nicht hinein, ob mit Nachthemd oder ohne, das schreib’ma uns gleich hinter die Ohrwascheln. Also brav sein, nicht die Schwester Paula sekkieren, sonst setzt’s was …»
Der Lemming gibt auf. Er trottet zurück in sein Zimmer, setzt sich auf die Bettkante und drückt den roten Alarmknopf über dem Nachttisch. Keine fünf Sekunden muss er warten, bis die Schwester erscheint; ihr pädagogischer Erfolg lässt sie bis über beide Ohren strahlen.
«Braver Bub! Gut gemacht! Dafür hab ich uns auch was Schönes mitgebracht …» Sie hält dem Lemming eine Zahnbürste hin, als wär’s ein Blumenstrauß, zwängt sich in das kleine Bad neben dem Eingang und hantiert über dem Waschbecken herum.
«Soda!», meint sie fröhlich, als sie wieder im Türrahmen auftaucht, «und jetzt wollen wir sicher ein Papperl haben, gell? Ein Hühnersupperl gibt’s heut, ein gutes, und ein Schnitzerl natur mit Erbserln und Pürreetscherl und …»
«Schwester … bitte … eine Frage nur …»
«Ja was denn noch? Haben wir ’leicht Extrawünsche?»
«Nein, nein … Ich wollte nur wissen … War in den letzten Stunden jemand hier? Ein Besuch vielleicht oder sonst irgendwer, der nicht auf die Station gehört?»
Ein Engel schwebt durchs Zimmer, sanft und leise. Auf dem Gesicht der Schwester beginnen sich rote Flecken auszubreiten, kleine Inseln zunächst, die wachsen und wachsen und sich rasch zu ganzen Kontinenten vereinigen. Nicht lange, und Schwester Paulas Schädel ist ein einziger, puterrot leuchtender Globus. Schon reißt sie die zitternden Lippen auf, doch ein Wunder geschieht: Ihr fehlen die Worte.
«Aber nein», versucht der Lemming
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