Lemmings Himmelfahrt
Theo gibt auf. Er packt den Rollstuhl und stapft los.
«Wer war das?», wagt der Lemming zu fragen, während sie auf den Fahrstuhl warten.
«Was wollen S’?»
«Wer das war? Dieser Mann vorhin …»
Sie steigen in die Liftkabine. Die Türen schließen sich lautlos.
«Ein Trottel», sagt Theo. «Ein Trottel namens Grock.»
14
«Wir tanzen, wir tanzen bei Tag und bei Nacht …»
Es ist schon absurd, denkt der Lemming, während er von Theo durch den Flur des Siegfried-Pavillons geschoben wird. Absurd und trotzdem so nahe liegend. Er schließt die Augen und schmunzelt.
«Wir loben und preisen die irdische Pracht …»
Kaum fünf Minuten ist es her, da haben sie ihm auf einmal wieder in den Ohren geklungen, diese seltsamen Stimmen, leise, ganz leise zunächst, als trüge sie ein lauer Windhauch von weit her über die Hügel.
«Stopp!», hat der Lemming dem schweigsamen Theo zugerufen, und der, nicht gewohnt, von Patienten Befehle entgegenzunehmen, hat aus lauter Verblüffung wirklich angehalten. «Was wollen S’ denn scho wieder?»
«Dieses … dieses Lied … Können Sie das auch hören?»
«Lied?», hat Theo gefragt, um dann, nach einer kurzen Nachdenkpause, zuckersüß hinzuzufügen: «Sicher doch, natürlich kann ich’s hören. Der gute Theo kann alles hören: Pfeifen, Trommeln, Stimmen aus dem Jenseits … Was immer Sie wollen: Sie wünschen, wir spielen …» Und dann ist Theo weitergegangen und hat so etwas Ähnliches wie «Lauter Trotteln» vor sich hin gebrummt.
Aber nicht lange.
Denn schon nach wenigen Metern hat der bockige Theo den Rollstuhl so jählings zum Stehen gebracht, dass der Lemming um ein Haar aus seinem Sitz geschleudert worden wäre, genau vor die Füße der vier blumenbekränzten Frauen, die gerade aus dem Unterholz gebrochen sind.
«Seids es deppert?», hat Theo nach der ersten Schrecksekunde losgebrüllt. Dabei hat er wild auf den Boden gestampft, sodass sich der Lemming für einen Moment auf die Bühne einer drittklassigen Broadway-Märchenrevue versetzt gesehen hat: hinter sich das reizbare Rumpelstilzchen im lindgrünen Waldschrattkostüm, vor sich die tänzelnden Nymphchen in weißen Tutus, die aber bei näherer Betrachtung doch eher einen pyknischen als einen mystischen Eindruck gemacht haben. Die kurzen Hälse, die breiten, offenen Gesichter mit den schräg gestellten Augen haben ihn sofort anseinen fünfjährigen Neffen erinnert: Auch der ist mit dem Down-Syndrom auf die Welt gekommen, das von Ärzten und Wissenschaftlern
Trisomie einundzwanzig
genannt wird, weil die Zellen dann statt des einundzwanzigsten Chromosomenpaares einen Chromosomendrilling aufweisen. Wer also behauptet, dass Menschen mit Down-Syndrom etwas fehlt, der liegt falsch: Was die Genetik betrifft, so leben sie eher im Überfluss als im Mangel.
Theo ist weder Arzt noch Wissenschaftler, er hat sich eine gewisse Bodenständigkeit bewahrt, und deshalb ist auch seine Reaktion entsprechend volksnah gewesen: «Na warts nur, ihr depperten Mongoweiber!», hat er die Frauen angebellt. «Na warts nur, wenn i euch erwisch!»
Aber er konnte den Rollstuhl auf dem abschüssigen Gelände nicht einfach so loslassen, um sich auf die vier zu stürzen – wahrscheinlich haben sie seinen verbalen Flatulenzen aus diesem Grund keine weitere Beachtung geschenkt. Ihre Aufmerksamkeit hat voll und ganz dem Lemming gegolten.
«Der ist aber süß!»
«Bist du neu hier?»
«So süß!»
«Wie heißt du denn?»
«Kannst du denn nicht laufen?»
«Bist du sehr krank?»
«Sag schon!»
Der Lemming hat keine ihrer Fragen beantwortet. Er hat einfach nur dagesessen und ungläubig den Kopf geschüttelt. Es hat eine Zeit lang gedauert, bis seine Verblüffung verflogen ist, bis die wirren Gedanken geordnet, die rechten Worte gefunden waren.
«Der Schnee und der Regen, der Wind und die Sonne …», hat der Lemming zögernd und leise zu singen begonnen.
«… Ein irdisches Leben voll himmlischer Wonne!», habendie Frauen sofort mit eingestimmt und aufgeregt in die Hände geklatscht. «Wir tanzen, wir tanzen …»
«Jetzt reicht’s aber!» Theo, der inzwischen die Bremse des Rollstuhls gefunden und arretiert hatte, ist den Sirenen mit heftigen Drohgebärden seiner nunmehr freien Arme entgegengestampft und hat sie vor sich hergescheucht wie ein mürrischer Hirtenhund eine fröhliche Gänseschar. «Ab durch die Mitte, ab in den Speisesaal, oder soll i euch in eure bladen Ärsche treten?»
Kichernd sind
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