Lemmings Himmelfahrt
die vier in Richtung
Walhall
geflattert, aber nicht ohne dem Lemming zuvor noch das eine oder andere Kusshändchen zugeworfen zu haben. Und er hat jedes einzelne grinsend erwidert.
«Eing’sperrt g’hören s’, die Daunegärs, die depperten … Eing’sperrt und nimmer ausselassen …»
Mit diesen Worten ist Theo wieder hinter den Lemming getreten, um die Talfahrt fortzusetzen, und er hat seine Schimpftirade bis zum Siegfried-Pavillon nicht mehr unterbrochen: «Dabei sind s’ wie a Sackel voller Flöh, die Daunegärs, die schirchen Weiber: Nix wie Zores hast mit denen, aber scho gar nix wie Zores … Alle zwei, drei Tag’ paschen s’ ab, verschwinden einfach aus der Klinik, keiner weiß, wie die das anstellen, und wir Pfleger können s’ dann suchen, draußen im Wald … als hätten mir sonst nix zu tun … Scheiß auf die depperten Daunegärs, die depperten …»
Erst nach einer Weile hat sich dem Lemming die Bedeutung des merkwürdigen Wörtchens
Daunegärs
erschlossen: Es war ein sprachlicher Bastard, ein Mischwort aus Theos erdigem Wienerisch und dem englischen Kose- und Künstlernamen, mit dem das singende Damenquartett offenbar in der Klinik bezeichnet zu werden pflegte. Und der lautete sinnigerweise
Downie-Girls
.
Theo öffnet die Tür zum Krankenzimmer und schiebt den Lemming über die Schwelle. «Alles aussteigen, dieser Rollstuhl wird eingezogen!», brummt er. «Ein Essen, wenn S’ noch wollen, kriegen S’ von der Schwester, wenn S’ da auf den Knopf drücken. Des kommt dann auf Rädern, des Essen, so wie Sie …» Zwei Witze in knapp fünf Sekunden: eine beachtliche Leistung für den sonst so verdrießlichen Theo. Mit stolzem, ja beinahe heiterem Schnauben belohnt er sich selbst für seine humorige Großtat.
«Haha», meint auch der Lemming. «Eingezogen … auf Rädern … Sie sind mir schon ein Scherzbold …»
Verlegenes Räuspern. Theo scheint dergleichen Komplimente nicht gewohnt zu sein. Ohne noch weiter auf die halbherzige Schmeichelei zu reagieren, nimmt er die Decke vom Schoß des Lemming und hilft ihm aufzustehen.
«Ins Bett werden S’ ja wohl alleine finden», sagt er und wendet sich dem Ausgang zu. Schon halb aus dem Zimmer, dreht er sich noch einmal um und meint: «Wenn S’ was brauchen, rufen S’ mi. I bin eh schon für alle der Trottel, also warum net auch für Sie …»
Es mag ja sein, so denkt der Lemming, während er unter die Decke kriecht, dass Theo, dieser Poloblusenkretin, von allen Trotteln dieser Welt der größte ist. Vielleicht ist er aber gar kein so schlechter Mensch …
Ruhig ist es jetzt. Robert Stillmann scheint zu schlafen; jedenfalls sind seine Augen fest geschlossen. Über den
Ulmen
hat die Sonne ihren Zenit überschritten; hier unten im Siegfried-Pavillon herrscht schattige Kühle. Siesta. Der Lemming schmiegt sich ans frisch gespannte Laken, und seine Müdigkeit besiegt den Appetit im Handumdrehen. Kein Knopf wird gedrückt, keine Schwester gerufen, kein Essen verlangt, vor allem aber: kein Wort mehr gewechselt. Nur keine Worte mehr … Schwer und schwerer werden die Glieder, der Geisttritt aus sich selbst heraus, betrachtet sich friedvoll im Dämmerlicht: Das ist der süße Moment des Einschlummerns, die magische Grenze zwischen Wachsein und Schlaf. Der Lemming dreht sich auf die Seite, zieht, ganz Säugling, die Beine an den Körper und schiebt den rechten Arm unter das Kopfkissen, als wolle er es an sich drücken und nie im Leben wieder loslassen. Und dann, genau in jenem Augenblick, da der kleine Mann in seinem Kopf die Lichter löscht und erste Traumfetzen über die innere Leinwand huschen, berührt seine Hand das Samtige unter dem Kissen. Ein seltsam geformtes Stück Stoff, das sich um einiges weicher anfühlt als das steife Leinen des Bettbezugs.
Wenn die Erschöpfung den Hunger bezwungen hat, so wird sie nun ihrerseits von der Neugierde übertrumpft: Seit eineinhalb Tagen befindet sich der Lemming in erhöhter Alarmbereitschaft; seine Nerven sind zu angespannt, dass er sie einfach so abschalten könnte. Er zieht den dubiosen Lappen heraus und öffnet die Augen.
Mit einem Satz ist er auf den Beinen. Schleudert seinen Fund aufs Bett, als habe er sich die Finger daran verbrannt. «Scheiße!»
Er taumelt zurück, die Augen unverwandt auf das Ding, das Unding gerichtet, auf diese flaumige Arachnide, diese fünffüßige Giftspinne, dieses kleine, albinitische Monster. Aber es ist gar kein Tier, das nun
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