Lemmings Himmelfahrt
persönlich …
Einen Teufel wird er tun.
Aber nichts tun kann er auch nicht.
Schließlich ist er ja genau aus diesem Grund hierher gekommen: um Balint zu suchen, um Balint zu finden, um Balint des Mordes am Naschmarkt zu überführen …
Was erwartet der Geiger eigentlich? Will er sein kleines silbernes Spielzeug, seine Damenpistole, wiederhaben? Will erden Lemming dazu überreden, sich an seiner statt der Polizei zu stellen? Oder will er ihn, den einzigen Zeugen seiner Tat, nun auch beseitigen, um anschließend in aller Seelenruhe sein Penthouse wieder zu beziehen? Was will er?
Es ist zehn Uhr vormittags. Vierzehn Stunden bleiben dem Lemming, um das Für und Wider eines Treffens abzuwägen, vierzehn Stunden, die er sinnvoll nutzen wird. Er wird erst gar nicht versuchen, sich hinaus in den Wald zu stehlen, um die Waffe zu holen – wahrscheinlich rechnet Balint gerade damit. Nein, er wird schlafen, essen und spazieren gehen, ganz wie es ihm der Arzt verordnet hat.
19
Es ist wohl die merkwürdigste Mahlzeit seines bisherigen Lebens gewesen.
Ein prunkvoller Saal von der Größe einer Bahnhofshalle, flankiert von gewaltigen Marmorsäulen, die den Blick des Betrachters in Schwindel erregende Höhe führten, wo er sich bald im Gefunkel kristallener Lüster und goldener Stuckaturen verfing. Eine Unzahl runder Tische, festlich gedeckt mit damastenen Tüchern und Servietten. Dazwischen eifrige Fräuleins, die in frisch gestärkten Schürzchen Getränke auftrugen. Das alles erschien dem Lemming zunächst wie der Auftakt zu einer rauschenden Ballnacht, einem imperialen Empfang oder einer jener legendären amerikanischen Wahlspendenpartys. Zunächst aber nur. Kaum hat ihm eine der spitzenbesetzten Servierdamen seinen Platz zugewiesen, sind ihm die mehr als stilwidrigen Gedecke ins Auge gestochen, deren hervorragende Eigenschaft darin bestand, dass man gar nicht damit stechen konnte. Geschweige denn schneiden: Messer und Gabeln waren gewissenhaft entschärft und abgerundet; sie haben gewirkt wie degenerierte Abkömmlingeder Suppen- und Dessertlöffel. Das Besteck war aus Plastik, die Trinkbecher aus Karton, und die Teller, die sich den Anstrich kaiserlichen Porzellans gaben, bestanden ebenfalls aus Kunststoff. Jeglicher Verletzungsgefahr war hier bestens vorgebeugt; der Koch brauchte keine Kritik zu fürchten.
Nach und nach hat sich der Saal gefüllt; die Patienten sind hereingeströmt und haben mehr oder weniger zielstrebig ihre Plätze eingenommen. Auch ein paar Krankenschwestern sind hin und her geflattert, haben hektisch mit Rollstühlen rangiert und beruhigende Worte gesprochen. Abgesehen davon hat wieder das seltsam versonnene Schweigen geherrscht, das dem Lemming schon am Morgen aufgefallen ist. Die wenigen undeutlichen Laute, die hie und da zu hören waren, sind schaurig von den Wänden widergehallt.
Während der Lemming noch das bunte, aber stumme Treiben beobachtet hat, ist ein junger Mann mit dunklen, zerzausten Haaren und einer erklecklichen Anzahl von Pickeln an seinen Tisch getreten. Hat sich mit einem kurzen Nicken hingesetzt, die Hände in den Schoß gelegt und wortlos vor sich hin gestarrt.
«Grüß Gott», hat der Lemming gesagt. «Ich heiße … Odysseus …»
Der andere hat erst nach einer Weile reagiert. «Hallo», hat er gemurmelt, ohne den Blick zu heben. «Fotze.»
Der Lemming hat sich nicht lange gewundert. Wenn sich einer Odysseus nennt, so hat er im Stillen gedacht, dann kann ein anderer auch Fotze heißen.
«Servus, Fotze.»
In diesem Moment sind zwei Hühner erschienen. Ein totes in der Suppe, die nun serviert wurde, und ein lebendiges, das sich zum Lemming und zu Fotze an den Tisch gesetzt hat.
«Verzeihen Sie, meine Herren … haaahaha … bin wirklich untröstlich … hiiihihi …»
Natürlich ist es kein wirkliches Huhn gewesen. Aber die leuchtende Schminke und die brünetten, hochtoupierten Haare der Frau haben den Lemming frappant an ein solches erinnert. Auch ihre Stimme hat sich verblüffend ähnlich angehört. Immer wieder ist sie grundlos in hysterisches Gelächter ausgebrochen.
«Fotze», hat Fotze gesagt und seinen Löffel auf den Boden geworfen. Hat sich dann verschämt nach dem Essgerät gebückt und weitergegessen, während die Frau einmal mehr zu gackern begann.
«Fotze … hiiihihi …»
«Mistfotze!» Fotze hat die Augen zusammengekniffen und sich mit einer Hand an die Stirn geschlagen. «Mistfut!»
«Haaahaha!»
Abgesehen von
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