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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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also für Balints Mörderhände, keiner mehr und keiner weniger.
    Da ist etwas, das den Lemming irritiert   …
    Er versucht, sich zu sammeln, den Geist auf die Fährte zu setzen, die seine Ahnung ihm vorgibt, aber es will ihm nicht gelingen. Etwas stimmt nicht mit diesen Handschuhen   …
    Denk an etwas anderes, Lemming, entspanne deine grauen Zellen. Ruf dir das Sternengleichnis in Erinnerung: Willst du einen Stern am Nachthimmel betrachten, dann darfst du ihn niemals direkt ansehen. Wenn du ihn fixierst, verschwindet er. Du musst daran vorbeiblicken, gerade so, als würde er dich gar nicht interessieren, und plötzlich taucht er auf aus der Finsternis, erstrahlt am Rande des Gesichtsfelds. Dem Geist, dem Glück und den Gestirnen ist eines gemein: Sie lassen sich nicht zwingen.
    Ein wenig widerstrebend wendet sich also der Lemming den übrigen Gegenständen auf seiner Bettstatt zu: ein Necessaire mit Waschzeug und – natürlich elektrischem – Rasierapparat. Dann einige Notenhefte, Violinkonzerte von Mozart, Brahms und Bruch –
Trauriger Sonntag
ist nicht darunter. Ein kleines, schwarzes Buch, eine Bibel, in deren Einband ein goldenes Kreuz graviert ist. Während der Lemming noch darin blättert, fällt sein Blick auf den ledernen Koffer, in dem sich das Herzstück von Balints Sammlung befindet: seine Geige. Der Lemming lässt die Bibel in die Tasche seines Schlafrocks gleiten, öffnet den Koffer, hebt behutsam das schlanke Instrument aus seinem rubinroten Samtbett, streicht mit denFingern über den glänzenden Lack. Etwas stimmt nicht mit diesen Handschuhen   …
    Der Lemming legt die Geige zurück und beginnt, Balints Besitztümer wieder im Schrank zu verstauen. Die Hosen und Hemden, das Necessaire, die Schuhe. Dann sechs Paar weiße Handschuhe   …
    Das ist es. Plötzlich fällt es ihm wieder ein.
    In der Woche ein Paar genau für jeden Tag
, hat Schwester Ines gestern gesagt.
Ein Paar genau für jeden Tag:
Das macht genau vierzehn Handschuhe. Wenn man nun jenen, den der Lemming unter dem Kissen im Siegfried-Pavillon gefunden hat, zu dem Dutzend aus der Schublade rechnet und wenn man nun diese dreizehn von den insgesamt vierzehn Stück abzieht, bleibt ein einziger übrig. Ein einzelner Handschuh. Womit sich die Frage stellt, was der neurotische Geiger momentan an den Händen trägt   …
    Der Lemming wird sich später nicht schlüssig erklären können, was ihn dazu veranlasst hat, zu tun, was er jetzt tut. Dabei ist sein Vorgehen gar nicht so spektakulär wie die Eingebung, die dahinter steht, diese vage Vermutung, die sich in der Sekunde zur Gewissheit verdichtet: Auf einmal erscheint ihm Nestor Balint in einem ganz anderen Licht. Dieser Mann scheint gar nicht so krank zu sein, denkt der Lemming. Dieser Mann kann sehr wohl auch ohne Handschuhe durch die Gegend laufen. Dieser Mann verfügt über Intelligenz und über – ziemlich bizarren – Humor. Er spielt ein Spiel, ein rätselhaftes und subtiles Spiel, und er, der Lemming, ist nicht viel mehr als eine Marionette darin. Wie ein Hampelmann baumelt er an den Fäden, die Balint je nach Lust und Laune zieht, wie ein Jagdhundwelpe hechelt er der Fährte hinterher, die ihm der Geiger legt. Es ist eine Farce, denkt der Lemming, eine infantile Schnitzeljagd   …
    Wahrscheinlich sind es diese Überlegungen, die ihn nundazu treiben, sich auf die Bettkante zu setzen. Er starrt auf das frisch bezogene Kissen, hebt es dann hoch und zieht ohne jedes Erstaunen den letzten, den vierzehnten Handschuh hervor.
    Es ist eine Farce.
    Der Lemming befühlt das weiße Stück Stoff, schüttelt es, stülpt es schließlich um. Ein zusammengefalteter Zettel fällt heraus, rosa Papier, mit schwarzer Tinte beschrieben.
    Blockbuchstaben. Ungelenke Lettern. Mit wachsender Erregung liest der Lemming die Botschaft:
     
    BRAVO, MEIN FREUND, DU MACHST DICH. LUST AUF EIN KLEINES TETE-A-TETE ZUR BELOHNUNG? DU FINDEST MICH HEUT UM MITTERNACHT IN DER WASCHKÜCHE.
    HERZLICHST DEIN NESTOR BALINT
     
    Einen Teufel wird er tun.
    Er hat keine Lust, sich von Balint an der Nase herumführen zu lassen, er hat keine Lust mehr auf die Streiche des verrückten Streichers. Natürlich ist dieses Rendezvous eine Falle, was soll es denn sonst sein? Entweder er oder ich, denkt der Lemming; entweder er wandert hinter Gitter, oder ich wandere über den Jordan, auf der Flucht erschossen oder besser noch wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt totgeprügelt, vom staatsgewalttätigen Major Krotznig

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