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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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ihrer handwarmen Temperatur war die Suppe ausgezeichnet. Kräftig im Geschmack, mit nicht zu weich gekochten, klein geschnittenen Gemüsestücken angereichert, die Nudeln al dente, ein wahres Gedicht. Der Lemming hat sich gleich ein wenig kräftiger gefühlt. Kein Wunder, hat er gedacht, dass Hühnersuppe zuweilen auch als
jüdisches Penicillin
bezeichnet wird.
    «Drecksfut!» Fotzes Löffel ist wieder auf dem Boden gelandet. Er hat ihn aufgehoben und mit hochrotem Kopf die letzten Reste Fleisch aus seinem Teller gekratzt. Der junge Mann hat sichtlich gelitten, unter sich selbst und seinem unmanierlichen Verhalten, und dem Lemming sind allmählich handfeste Zweifel daran gekommen, dass sein Name wirklich Fotze war.
    «Na wunderbar, wunderbar   … Hoffentlich schmeckt’s den Herrschaften auch   …» Eine Hand hat sich schwer auf die Schulter des Lemming gelegt, Eberhard Langs Hand, wie am jovialen Tonfall der dazugehörigen Stimme unschwer zu erkennen war. Über seinem Anzug trug der Doktor heute einenstrahlend weißen Kittel, der vorne weit offen stand: ein oft gesehenes Zeichen der Ungezwungenheit, der saloppen Verbrüderung des Arztes mit seinen Patienten.
    «Danke», hat der Lemming gemeint, «schmeckt ausgezeichnet   …»
    Fotze ist offenbar anderer Meinung gewesen.
    «Drecksau!», hat er in Richtung des Doktors hervorgestoßen. «Hurensau!»
    Doktor Lang hat den Tisch umrundet und sich neben Fotze gestellt. Hat ihm sanft über den Arm gestrichen und sich mit einem nachsichtigen Lächeln an den Lemming gewandt.
    «Unser Willi, gell? Unser Sorgenkind   … Unser Willi macht das nicht absichtlich, nicht dass Sie glauben   … Er leidet an einer seltenen neuropsychiatrischen Erkrankung. Tourette-Syndrom, vielleicht haben Sie schon davon gehört. Der arme Willi schämt sich fürchterlich für seine Tics, aber er kann nicht anders, es ist zwanghaft, wie   … wie zum Beispiel Schluckauf. Gell, Willi?»
    «Ficken, du Sau!» Fotze, der also in Wirklichkeit Willi hieß, hat sich zur Seite gedreht, hat langsam den Kopf gehoben und die Augen aufgerissen. Mit einem kleinen, schnalzenden Geräusch hat er dem Doktor einen dicken Batzen halb zerkautes Suppenfleisch mitten ins Gesicht gespuckt.
    «Hiiihihi!» Kurz und heftig ist das Gackern der aufgetakelten Hühnerdame durch den Saal geschallt, ist dann abgeebbt und bald erstorben. Totenstille im Raum. Doktor Lang, um Haltung bemüht, hat Willi angestarrt. Willi, bestürzt und unendlich verlegen, hat Doktor Lang angestarrt. Hat die Augen zusammengekniffen und noch einmal gespuckt.
    Und dann, mitten ins Schweigen hinein, dieses Wort. Ein Raunen nur, und trotzdem klar und deutlich. Von hinten ist es an die Ohren des Lemming gedrungen.
    «Grabhändler   …»
    Wie auf Kommando haben sich alle Blicke dem Sprecher zugewandt, während die Hühnerfrau abermals loskreischte.
    «Grabhändler! Grabhändler! Haaahaha!»
    Auch der Lemming hat sich neugierig umgedreht. Am Tisch gleich hinter ihm hat nur ein einziger Mann gesessen. Blass und schmal, mit hochgezogenen Schultern, so hat er auf seinen Teller gestiert.
    «Unser Grock, gell?» Der Doktor hat sich geräuspert und die kleine Ablenkung dazu genutzt, aus Willis Reichweite zu kommen. «Unser Grock   … Ja also   … Ich muss dann leider   … Und noch guten Appetit allerseits   …» Mit raschem Schritt und einem eilig hervorgezogenen Taschentuch vor dem Mund hat Eberhard Lang das Weite gesucht.
     
    Der Lemming erwacht mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Kein saurer Gedanke an Balint und Bauer und Buchwieser, an Krotznig und Klara und Rolf trübt das süße Gefühl seiner wiedergewonnenen Kräfte. Ein köstliches Mittagessen und zwei Stunden Tiefschlaf, das ist alles, was ihn in diesem Moment beschäftigt   … Nach der Hühnersuppe hat es einen vorzüglichen Lendenbraten gegeben, wieder nur lauwarm und klein geschnitten, aber trotzdem: Das Können des Kochs ist unüberschmeckbar gewesen. Und dann das Dessert, das dem edlen Ambiente des Raums mehr als angemessen war: Kaiserschmarren mit Zwetschgenröster   … Und nach dem Dessert das frische, kühle Laken, die heilige Ruhe   … Der Lemming grunzt vor Wonne, wälzt sich aus dem Bett und blickt aus dem Fenster. Obwohl der Himmel wolkenverhangen ist, lässt sich der Stand der Sonne erahnen: Es muss kurz nach drei sein, vielleicht schon halb vier; höchste Zeit also für den geplanten Nachmittagsspaziergang.
    Als der Lemming den Aufzug verlässt und in die

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