Lemmings Himmelfahrt
hinaustreten, bietet sich dem Lemming ein ganz anderes Bild als am Vortag: Reich bevölkert sind jetzt die Fluren
Unter den Ulmen
; allerorts lustwandeln Menschen auf den Pfaden des Hügels von
Walhall,
der mit einem Mal wirkt wie ein riesiger Ameisenhaufen. Fast alle gehen allein, spazieren langsam die Wege entlang, und was sie auf seltsame Art zu verbinden scheint, das ist die träumerische Schweigsamkeit, die sie umfängt. Ganz vereinzelt nur hört man Geräusche und Stimmen: ein Schnalzen, ein Tuscheln, ein hastig hervorgestoßenes Satzfragment. Von weiter oben im Wald dringt etwa alle zehn Sekunden ein hohles und lang gezogenes Seufzen an die Ohren des Lemming. Ihn fröstelt, während er sich mit Schwester Ines an den Aufstieg macht.
«Na, wunderbar! Unser Herr Odysseus ist wieder auf den Beinen, wie ich sehe …» Mit wippendem Haarschopf und einem Lächeln um den Mund tritt Doktor Tobler auf die beiden zu. «Wie geht es Ihnen heute?»
«Danke, Herr Doktor … Ich glaube, meine Kakophobie ist inzwischen abgeklungen. Jetzt fehlt mir nur noch das Gedächtnis …»
Tobler lacht auf. «Alles halb so schlimm, solange Sie nur unsere liebevolle Betreuung in guter Erinnerung behalten …», meint er und zwinkert Schwester Ines zu. «Ach ja, und Ihre Wohnsituation wird sich jetzt auch noch entscheidend verbessern: Sie dürfen eine unserer Luxussuiten beziehen, Toplage, sag ich Ihnen, mit Blick über Wien … Allerdings», fügter, nun wieder ernst geworden, hinzu, «sehr befristet, wie ich hoffe: erstens, weil ich möchte, dass der Herr Balint bald wieder zurückkommt, und zweitens, weil ich möchte, dass Sie uns bald wieder verlassen. Also schlafen S’ ordentlich, gehen S’ spazieren und tanken Sie viel frische Luft … Und kommen S’ doch bei mir im Büro vorbei, am besten morgen Vormittag; vielleicht können wir ja gemeinsam ein Stückerl von Ihrer Vergangenheit ausgraben. Apropos Vergangenheit: Beim Unfallort draußen haben wir leider nichts gefunden; ich hab den Emil gestern noch hinausgeschickt … Aber trotzdem keine Sorge, alles wird sich klären …» Doktor Tobler drückt den Lemming sanft am Arm und nickt Schwester Ines schalkhaft zu. «Passen S’ mir gut auf ihn auf, Schwester; man hat nicht so oft einen griechischen Helden zu Gast …» Dann geht er weiter, stakst mit flatternden Mantelschößen bergab in Richtung Siegfried-Pavillon.
Ines strahlt still in sich hinein. «So ein Gutmann», meint sie mehr zu sich selbst als zum Lemming gewandt, «ein Engelmanndoktor. Eine Schande das …»
Die beiden setzen ihren Marsch fort, Ines in Gedanken versunken, der Lemming leicht verwirrt.
«Was meinen Sie? Was ist eine Schande?», fragt er schließlich.
«Eine Schande das, weil … sollte Chef sein Doktor Tobler.»
«Ach so … Ich verstehe. Ja, der Doktor Tobler wäre sicher ein guter Chef …»
«Eben. Aber Sie verstehen trotzdem nicht. Sollte Chef sein Doktor Tobler, wirklich Chef. Lang hat ihm weggenommen …»
«Wie weggenommen?»
«Das ist alte Geschichte. Ich war noch nicht damals da. Aber ich habe gehört … Alter Ulmenchef ist … wie sagt man … weggegangen, weil … eben weil schon so alt war …»
«In Pension?»
«Ja, Pension. Und Toblermann sollte Chef sein. Aber Doktor Lang hat ihm weggenommen. Ich weiß nicht, wie …»
Er hat einen Freund betrogen
, fährt es dem Lemming durch den Kopf. Das waren die Worte Lieselotte Langs über ihren Mann. Gut möglich, dass Tobler dieser Freund gewesen ist. Dünn ist die Luft am Olymp, kräftig und lang die Ellbogen der oberen Chargen: Wenn es um Macht und Dienstgrade geht, reduzieren sich Freundschaften nicht selten zu brauchbaren Stufen auf dem Weg zum Erfolg, die man im Bedarfsfall mit Füßen tritt. Die Karriereleiter ist wohl auch immer eine Räuberleiter …
«Aber … ich habe nicht geredet, was ich geredet», meint Schwester Ines nun. Und mit dieser ihrer Standardfloskel beendet sie das Gespräch.
Doktor Tobler hat nicht zu viel versprochen. Nestor Balints Zimmer ist mehr als ein Zimmer; im vierten, ein wenig zurückversetzten Stockwerk gelegen, gleicht es schon eher einem Penthouse an der Upper East Side. Der Lemming folgt Schwester Ines auf die große Terrasse hinaus, tritt an die Brüstung und lässt seinen Blick über die Landschaft schweifen. Obwohl es inzwischen ein wenig dunstig geworden ist, kann er rechts, weit hinter den Hügeln Oberdöblings, die Spitze
Weitere Kostenlose Bücher