Lemmings Himmelfahrt
der Bub sieht auch nicht älter aus. Aber hat ihm Rebekka Stillmann nicht gestern erzählt, dass ihr Mann vor siebzehn Jahren ins Koma gefallen ist? Wie kann sie dann … Wie kann
er
dann …
«Was aber?» Rebekka wendet den Kopf und blickt den Lemming an.
«Nein, gar nichts. Ich dachte nur, in der fünften Klasse ist es noch nicht so schlimm …»
Es kann nur eine Erklärung geben: Robert Stillmann ist gar nicht Simons leiblicher Vater … Man kann es keinem Menschen verdenken, wenn er sein Leben nach so einem Schicksalsschlag weiterlebt, wenn er geliebt werden will und berührt und in die Arme genommen. Andererseits macht Rebekka nicht den Eindruck, als habe sie sich jemals weit genug von ihrem Mann entfernt, um einen anderen an seine Stelle treten zu lassen. Sie muss eine starke Frau sein, denktder Lemming, viel stärker noch, als sie ohnedies schon wirkt: fünfzehn Jahre lang den Sohn des einen Mannes großzuziehen, während man den anderen täglich besucht und liebevoll umhegt … Zugleich, so grübelt der Lemming weiter, muss sich wohl irgendwo in ihrem Wesen ein Stück Skrupellosigkeit verbergen, das ihm bisher vollständig entgangen ist: Es braucht nicht nur gute Nerven, um ein solches Doppelleben zu führen, es braucht vor allem eine maßlos dicke Haut, wenn man dem eigenen, sprach- und hilflosen Mann tagtäglich das Kind eines anderen präsentiert …
«Sie irren sich … Simon ist tatsächlich Roberts Sohn.» Rebekka Stillmann kann, wie es scheint, Gedanken lesen. Sie sieht den Lemming nicht mehr an. Sie sucht auch keine Elfen mehr zwischen den Bäumen. Sie schließt die Augen und blickt nach innen, in eine verwüstete Landschaft, in der die Ruinen ihrer Vergangenheit stehen.
«Er
ist
Roberts Sohn», sagt sie noch einmal, «das können Sie mir glauben. Sie müssen es gar nicht verstehen.»
«Aber wie …»
«Fragen Sie nicht … Wissen Sie, als der Robert damals … als das damals geschehen ist … Ich wollte tot sein. Einfach nur tot. Der schönste Tag im Leben einer Frau, sagen die Leute immer …»
Der Lemming verbeißt sich die Frage. Sie hängt ohnehin in der Luft.
«Der Hochzeitstag. Es war unser Hochzeitstag. Wir waren zweiundzwanzig damals, und die ganze Welt war … wie soll ich sagen, sie ist …»
«Ihnen offen gestanden?»
Rebekka lacht auf, scharf und bitter zugleich.
«Offen gestanden? Nein. Sie hat uns
gehört
. Wir
waren
die Welt. Wenn sich zwei Menschen wirklich lieben, kreisen sie nur noch umeinander, heißt es. Aber das ist nicht wahr. Esfühlt sich eher an, als wäre man plötzlich mit allem vereint, was es gibt … Nein, man
ist
mit allem vereint, was es gibt. Man
weiß
es einfach. Die Sinne sind wach und hell, das Denken gütig und liebevoll, das Herz ist auf einmal so groß, dass jeder und alles darin seinen Platz findet … Für die Wissenschaft sind das profane chemische Vorgänge, körpereigene Drogen, unschädlich, gratis und legal … Aber was setzt sie frei, diese Drogen? Was löst ihn aus, diesen Trip? Man kann vielleicht die Wissenschaft lieben. Aber die Wissenschaft liebt nicht zurück …
Der Robert hat das genauso gesehen wie ich. Obwohl er Medizin studiert hat. Er hat sich auch nicht erklären können, was mit uns geschieht …»
Rebekka senkt den Kopf und lächelt versonnen.
«1982 haben wir uns kennen gelernt, im November … Die vier im Jeep – kennen Sie diesen Begriff?»
Selbstverständlich kennt ihn der Lemming. Die Siegermächte im geteilten Wien der Nachkriegsjahre wurden so genannt. Das Stadtbild des ersten Bezirks, der keinem der vier Sektoren zugeordnet war, wurde damals von den gemeinsamen Militärpatrouillen der Amerikaner und Russen, Franzosen und Engländer geprägt. Und dann, zu Beginn der fünfziger Jahre, auch die Kinoleinwände:
Die vier im Jeep
hieß der nach dem
Dritten Mann
wohl berühmteste Film über die Wiener Besatzungszeit.
«Es war auf der Währinger Straße, ein richtiger Novembertag, kalt und regnerisch. Ich wollte gerade über die Straße gehen, da haben sie sich vor mir eingebremst, die vier im Jeep. Kein Verdeck, alle dick vermummt – der Robert hat sogar einen Regenschirm aufgespannt gehabt; den hat der Fahrtwind natürlich dauernd umgestülpt … Eine richtig skurrile Partie. Können Sie sich den Doktor Lang mit Pferdeschwanz vorstellen?»
«Was? Der war auch dabei?»
«Allerdings. Und seine Frau, die Lotte, mit Latzhose und Palästinensertuch. Und der
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