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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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des Stephansdoms erkennen, die sich neckisch aus dem Nebel streckt. Schön ist es hier am Dach der Wienerstadt, so fern der Welt da unten und zugleich vor ihr geschützt   …
    «Ein Elfenbeinturm   …», nickt der Lemming und streicht über das feinmaschige Drahtnetz, das sich wie ein Käfig über die Terrasse wölbt. «Und so gut gesichert   …»
    «Es ist für Taubenvögel   … also ich meine, für keine Taubenvögel. Sie verstehen, wie ich meine   …»
    Der Lemming weiß sehr wohl, was Schwester Ines sagen will.Aber abgesehen davon, dass es hier draußen keine Tauben gibt, weil sie die dichter bewohnten Stadtgebiete bevorzugen, und abgesehen auch von dem oftmals strapazierten geschmacklosen Scherz, dass nervenkranke Menschen gerne Flugversuche unternehmen, ist ihm der eigentliche Grund für das schützende Drahtgitter wohl bekannt: Österreich gehört von jeher zur Elite in der Disziplin des Suizids. Nur überflügelt von Finnland, das mit knappem Vorsprung an zweiter Stelle liegt, und von Ungarn, das die Europameisterschaft Jahr für Jahr aufs Neue mit souveränem Abstand dominiert, hält die Alpenrepublik traditionellerweise die Bronzemedaille in dieser fragwürdigen Mannschaftssportart. Als Lemming muss man so etwas wissen. Als Lemming weiß man auch unzureichende Sicherungsmaßnahmen wie diesen lächerlichen Drahtkäfig wohl zu deuten: Selbstmord ja, aber nicht ohne Netz. Österreich ist wahrscheinlich das einzige Land der Welt, in dem man sich ein bisserl umbringen kann   …
    Was die Finnen tun, um ihre Selbstmordrate einzudämmen, ist dem Lemming allerdings nicht bekannt. Wahrscheinlich müssten sie allesamt in südlichere Gefilde auswandern, um der unerträglichen Kälte und der seelenzermürbenden Finsternis ihrer Polarnächte zu entrinnen. Und die statistischen Spitzenreiter der Selbstentleibung? Die Ungarn? Sie sind eben von Natur aus traurig, die Ungarn, ja mehr noch, sie sind einer Art melancholischem Fundamentalismus verpflichtet. Sie würden an den Grundfesten ihres Magyarentums rütteln, würden sie sich nicht mehr umbringen; das wäre fast so etwas wie ein kollektiver kultureller Suizid. Der Budapester Musiker Reszö Seress ist wohl der beste Beweis dafür: Er komponierte Mitte der dreißiger Jahre das berühmte Lied
Trauriger Sonntag
, das schon bald zur Hymne der Selbstmörder wurde. Hunderte Ungarn entleibten sich, während sie es hörten, und auch ein behördliches Aufführungsverbotdes Stückes änderte nichts an ihren Sitten und Gebräuchen. Dass schließlich auch Seress den Freitod wählte, versteht sich von selbst   …
    Trauriger Sonntag
, sinniert der Lemming. Hat diesen Titel nicht schon Eberhard Lang erwähnt, gestern Mittag, im Gespräch mit seiner Frau? Natürlich, die Assoziation liegt nahe: Auch Nestor Balint ist ein Musiker mit ungarischem Namen   …
    Solchermaßen in die Gegenwart zurückgekehrt, wendet sich der Lemming von der schönen Aussicht ab und tritt ins Zimmer. Schwester Ines folgt ihm, während er das geräumige Bad bewundert, den Wohnraum und das benachbarte Schlafzimmer inspiziert, in dem vor einer mächtigen Schrankwand ein richtiges Bett mit vier stabilen Beinen steht.
    «Im Schrank», sagt die Schwester, «ist alle Sachen von Herrn Balint. Sie werden nicht den Schrank brauchen, oder?»
    «Nein   … danke», meint der Lemming. Hoffentlich, so denkt er im selben Moment, sind die Schranktüren nicht versperrt   …
    «Gut, dann ich gehe jetzt. Für Mittagessen kommen Sie in Speisesaal, ja? Halb eins ist Mittagessenzeit   …»
    «Schwester?»
    «Ja?»
    «Wissen Sie vielleicht, wo meine Kleider geblieben sind?»
    «Ihre Kleider von gestern», kichert Schwester Ines, «das waren Schmutzfinkkleider   … Wir haben in Wäscherei gegeben, für Putzen.»
    «Ach so   … danke.»
    Kaum hat Schwester Ines das Appartement verlassen, hastet der Lemming zur Schrankwand. Er hat Glück: Die Türen sind unversperrt, und so liegen schon bald die Habseligkeiten Nestor Balints auf dem Bett vor ihm ausgebreitet. Viel ist es ja nicht, was der kleine Mann mit den großen Augen besessenhat: ein wenig Unterwäsche, die der Lemming im Schrank gelassen hat, dann ein paar Hemden und Hosen mit leeren Taschen, drei Paar penibel geputzter Schuhe, ein grauer Hut, eine Wintermütze. Ungewöhnlich, aber nicht unerwartet die weißen Stoffhandschuhe, die der Lemming in einem eigenen Schubfach gefunden hat. Sechs Paar sind es, die nun auf der Bettdecke liegen, zwölf Handschuhe

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