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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Vorhalle tritt, läuft ihm Rebekka Stillmann entgegen.
    «Mein Gott, ich freu mich, dass Sie wieder auf den Beinen sind! Ich hab schon erfahren, dass man Sie verlegt hat; wie’s scheint, ist der Herr Balint also nicht wieder aufgetaucht   …» Einen Moment lang kommt es dem Lemming so vor, als wolle ihn die Frau umarmen, dann aber nimmt sie nur seine Hände in die ihren und drückt sie sanft.
    «Von mir aus hätten Sie ruhig im Zimmer vom Robert bleiben können, aber hier heroben haben Sie’s wahrscheinlich komfortabler   … Und auch lebendiger   … Jetzt sagen S’ schon, wie geht es Ihnen?»
    «Schon viel besser», sagt der Lemming. «Ganz im Ernst», fügt er hinzu, als er Rebekka Stillmanns zweifelnden Blick bemerkt. «Ich wollt grad ein bissel spazieren gehen   …»
    «Stört es Sie, wenn ich mitkomme?»
    Unweit der bedrohlich aufragenden Rückseite des Hauptgebäudes steht ein bei weitem modernerer Bau, zwei Stockwerke hoch und vollkommen schmucklos. Neben dem großen, majestätischen Bruder wirkt er wie ein misslungener Dorfbahnhof. Wie der Lemming von Rebekka Stillman erfährt, ist es das Wohnheim, das auch schon Schwester Ines erwähnt hat. Die beiden umrunden es und folgen dem Pfad in nordwestlicher Richtung, wo er sich sanft in eine bewaldete Senke hinabschlängelt. Hier stehen die Bäume viel dichter als auf dem schütter bewachsenen Hügel von
Walhall
; zwischen den knorrigen Stämmen ist es düster und totenstill – sogar die Vögel schweigen. Mag sein, dass ein Unwetter naht, denkt der Lemming. Tiere pflegen so etwas vorauszuahnen   …
    «Ein Märchenwald   …», sagt Rebekka Stillmann leise.
    «Ja», meint der Lemming, «ein Märchenwald.»
    «Manche Leute glauben, dass hier böse Geister wohnen.»
    «Ach   … und Sie auch, Frau Stillmann?»
    Ihr kurzes, helles Lachen fährt wie ein Lichtstrahl durch die Dämmerung.
    «Natürlich   … Deshalb wär’s mir auch lieber, Sie würden mich Rebekka nennen. Der Hänsel hat ja das Gretel auch nicht   … mit
Fräulein Birnstingl
angeredet.»
    «Na gut, Rebekka. Ich heiße Leopold.»
    Noch während ihm die letzte Silbe über die Zunge rollt, wünschte der Lemming, er würde im moosigen Boden versinken.
    «Mein Gott   …» Rebekka Stillmann kommt mit einem Ruck zum Stehen. Schlägt die Hände vor den Mund. «Haben Sie gehört, was Sie da gerade   …?»
    Jetzt ist es wirklich geschehen. Jetzt bist du nicht nur ein bisschen gestrauchelt, Lemming, jetzt hast du bei vollem Tempo die Hosen verloren und eine kräftige Bruchlandung hingelegt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, keine Ausflucht in lachhafte Kinderreime. Jetzt gibt es nur noch – eine Umarmung: Mit einem Seufzer der Erleichterung fliegt Rebekka Stillmann auf den Lemming zu und drückt ihn an sich. «Es kommt zurück», stößt sie hervor, «Ihr Gedächtnis, es kommt zurück   …»
    «Ja wirklich   … unglaublich   …», murmelt der Lemming kopfschüttelnd, «dass mir das einfach so einfällt, ganz wie von selbst   … Dann heiß ich also   … Leopold.»
    «Und weiter? Wissen Sie’s?»
    Er runzelt die Stirn, die auf einmal ganz heiß ist vom Schreck und vom schlechten Gewissen.
    «Nein   … tut mir Leid   …»
    «Macht nichts, Leopold», meint Rebekka vergnügt und löst sich von ihm, «das ist immerhin ein Anfang. Obwohl ich schon ziemlich gespannt darauf bin, wer Sie wirklich sind   …»
    Nach etwa fünf Minuten gelangen sie auf eine Lichtung, in deren Mitte eine offene, halb verfallene Gartenlaube steht. Darin eine hölzerne Bank, nicht weniger morsch als der betagte Pavillon.
    «Wollen wir’s versuchen?»
    Die Bank knirscht verdächtig, aber sie hält. Bald sitzen die beiden nebeneinander und lassen gemächlich die Blicke schweifen, als ließen sich Faune und Feen im Unterholz erspähen.
    «Ein Märchenwald», sagt der Lemming noch einmal, «vielleicht hat ja früher die böse Hexe hier gewohnt   …»
    «Nein, nicht hier. Ein Stück weiter hinten, in der Kapelle. Wahrscheinlich wohnt sie noch immer dort: Die Kapelle ist   … na ja, wirklich ein bissel unheimlich   … Ehrlich gesagt: Ich hab auch dem Simon verboten, dorthin zu gehen.»
    «Wo ist er eigentlich heute, der Simon?»
    «Er ist noch in der Schule, Nachmittagsunterricht. Kind sein ist heutzutage ein Fulltimejob   …»
    «Da haben Sie wohl Recht   … Wie alt ist er denn?»
    «Fünfzehn. Er wird fünfzehn, heute in einer Woche.»
    «Aber   …» Der Lemming verstummt noch im Ansatz. Natürlich,

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