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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Familie verdient   …»
    Er vertrug nicht sehr viel. Nach einigen weiteren Gläsern sank er erschöpft zurück und schloss die Augen.
    Ich überlegte lange, ob ich ihn fesseln sollte, entschied mich am Ende aber doch dafür. Wenn es auch nicht die elegante Vorgangsweise war, so doch die vernünftigere. Solange ein Mensch noch an das Leben glaubt, ist selbst der tiefste Schlaf ein wankelmütiger Gesell. Ich sollte mit meiner Einschätzung Recht behalten: Als ich die Nadel in seine Vene stach, erwachte der Apotheker. Die Mandarine in seinem Mund wäre allerdings nicht nötig gewesen. Er versuchte erst gar nicht, um Hilfe zu rufen; er starrte mich nur mit großen Augen an. Abgesehen davon hätte ihn auch niemand gehört, selbst wenn er gebrüllt und gekreischt hätte: Seine Frau war eine absolut zuverlässige Schläferin; sie liebte Morpheus mindestens so sehr wie Bacchus.
    Ein mittelgroßer Mann besitzt im Durchschnitt fünf, sechs Liter Blut; um dieser Menge also vier Promille hinzuzufügen, benötigte ich etwas mehr als zwanzig Milliliter reinen Alkohol. Da ich nur Siebzigprozentigen nahm, um eine Reizung der Blutbahn zu vermeiden, überlegte ich, die Menge entsprechend zu erhöhen. Weil sich der Apotheker aber schon ein gutes Viertel davon selber angetrunken hatte, ließ ich es bei den errechneten zwanzig Millilitern bewenden. Ich spritzte sie ihm in die Vene oberhalb des Knöchels, ein entlegener Punkt am menschlichen Körper, ähnlich entlegen wie die Ferse des Achilles.
    Während ich auf die Wirkung meiner Behandlung wartete, öffnete ich zwei weitere Flaschen aus der Sammlung der Apothekersfrau. Ich schüttete ihren Inhalt in den Ausguss und drapierte sie auf dem Boden neben der Couch. Dann zündete ich die Christbaumkerzen an und wickelte die Geschenke aus. Es war nichts Nennenswertes dabei: Turnschuhe und ein Walkman für mich, Socken und Bücher für den Apotheker;die gängigen Familiengaben eben. Die Päckchen, die für seine Frau bestimmt waren, ließ ich unberührt. Ich löschte die Kerzen und ging zur Couch zurück.
    Der Apotheker versuchte nach wie vor, mich mit seinem Blick zu fixieren, aber seine Augen spielten nicht mehr mit. Sie rollten hin und her wie Rettungsbojen bei bewegter See. Was mich allerdings erstaunte, war der Umstand, dass er lächelte. Fest über den Knebel in seinem Mund gespannt, verzogen sich seine Lippen zu einem dümmlichen Grinsen. Ich nehme an, er glaubte nach wie vor an meine so genannten
guten Absichten
. Vielleicht dachte er, dass ich sein Eheweib auf radikale Art zur Einsicht bringen, ihr quasi einen Spiegel ihrer selbst vor Augen halten wollte. Vielleicht war er aber auch nur dankbar dafür, sich mit meiner Hilfe einmal selbst so richtig gehen lassen zu dürfen.
    Ich band ihn los, entfernte die Mandarine aus seinem Rachen und rollte ihn von der Couch auf den Boden. Er hatte längst die Kontrolle verloren, sowohl über seine Bewegungen als auch über seine Sprache. Von Zeit zu Zeit drang ein unverständliches Lallen aus seinem Mund, das in meinen Ohren fast ein wenig fröhlich klang. Ich durchquerte das Zimmer und öffnete die Tür zur Veranda. Es hatte zu schneien aufgehört, und über den See spannte sich glitzernd der Sternenhimmel. Obwohl es windstill war, herrschte draußen eine mörderische Kälte; es hatte sicher zehn Grad unter null. Ich nahm den Apotheker an den Füßen und zerrte ihn auf den Balkon. Nach mehreren Versuchen gelang es mir, ihn aufzurichten. Der Rest war eine Kleinigkeit; nicht mehr als ein sanfter Stoß mit der linken Hand: Der Apotheker schwankte so stark, dass er beinahe von selbst über die Brüstung fiel.
    Ich schloss die Tür und kehrte zum Kamin zurück, um mich ein wenig aufzuwärmen. Es war klar, wie sich der Vorfall zugetragen haben musste: Nach der widerwärtigen Szene mitseiner Frau hatten wir beschlossen, uns das Weihnachtsfest nicht verderben zu lassen. Wir hatten also die Kerzen entzündet und unsere Geschenke ausgepackt. Trotzdem wollte keine rechte Freude aufkommen. Der Apotheker hatte zu trinken begonnen. Er hatte etwas von ‹völlig am Ende› und von ‹Scheidung› vor sich hin gemurmelt und mich gebeten, ihm für diese Nacht meinen Schlafplatz auf der Couch zu überlassen. Der Rest war leicht zu erahnen: Nachdem ich mich also zu seiner Frau gelegt hatte, musste er sich heillos betrunken haben und musste irgendwann auf den Balkon getreten sein, um ein wenig Luft zu schnappen   …
    Beinahe wäre mir noch ein fataler Fehler

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