Lemmings Himmelfahrt
unterlaufen. Stricke und Spritze waren entsorgt; ich lag bereits im ehelichen Bett, neben mir das schnarchende Apothekerweib, als mir plötzlich die Balkontür einfiel: Am Morgen musste sie natürlich offen stehen. Ich machte mich also nochmals auf den Weg ins Erdgeschoss, als ich ein leises Kratzen aus dem Vorraum hörte.
Es hat mich immer verblüfft, wie zäh ein Mensch sein kann, wenn er ums Überleben kämpft. Trotz seines Zustands hatte es der Apotheker geschafft, aus dem halb gefrorenen Wasser zu kriechen. Er hatte den Steg erklommen und war bis vor das Haus, bis vor die Eingangstür gerobbt. Ich trat in den Flur und schob den Riegel vor.
Die Entdeckung des Leichnams überließ ich seiner Frau. Sie fand ihn am nächsten Morgen tiefgefroren auf den Planken liegen, und es brauchte eine Zeit, bis sie dahinter kam, worum es sich bei dem großen, vereisten Klumpen handelte.
Wenige Tage später – wir waren wieder in die Stadt zurückgekehrt – zweigte sie eine gewaltige Menge an Schlaf- und Beruhigungsmitteln aus der Apotheke ab. Den siebzigprozentigen Alkohol ließ sie – im Gegensatz zu mir – unangetastet. Sie schluckte die Tabletten daheim im Bett, und sie spültemit der obligaten Flasche Whisky nach. Ihr Selbstmord war die logische Folge des Geschehenen. Den Tod ihres Mannes und ihre augenfällige Schuld daran hätte sie wohl noch verkraftet. Dass sie das Pornoheftchen nicht mehr fand, mit dem sie ihr gehässiges Verhalten vor mir und vor der ganzen Welt rechtfertigen wollte, war schon weit schwerer zu ertragen. Den Rest aber gab ihr, wie ich vermute, der Umstand, dass ihr Mann und ich das Weihnachtsfest ohne sie gefeiert hatten: Sie fühlte sich verstoßen, erstmals zu Unrecht verstoßen, und also verstieß sie sich endgültig selbst.
Was mich betrifft, so war ich mit meiner Arbeit mehr als zufrieden. Wohl geplant und kühl verwirklicht, war mir ein wahres Meisterwerk gelungen, dem es weder an Entschlossenheit noch an Ästhetik mangelte. Das Erbe, das mir durch den Tod des Apothekerpaars zufiel, war nicht mehr als ein Nebenprodukt meiner Tat, auch wenn ich es frohgemut antrat. Trotzdem muss ich einmal mehr betonen, dass persönliche Bereicherung nicht mein Motiv gewesen ist. Was geschah, das ließ ich nur um seiner selbst willen geschehen:
Die wahre Kunst kennt weder Zweck noch Schranken, schenkt Tod dem Leben und dem Schatten Licht:
Denn Sein und Nichtsein, Schöpfung und Zerstörung sind stets ihr unumschränktes Höchstgericht.
21
Der Lemming hat das Abendessen versäumt.
Sie sind noch eine Zeit lang dort gesessen, Rebekka und er, auf der Bank im Salettel im Geisterwald. Irgendwann hat Rebekka auf die Uhr geschaut und ist aufgesprungen.
«Jesus, halb sechs vorbei! Der Simon wird schon längst zu Hause sein …»
Also haben sie sich auf den Rückweg gemacht, Seite an Seite in trübe Gedanken versunken. Doch bei allem Mitleid mit Rebekka hat der Lemming den ehemaligen Kriminalbeamten nicht ganz verleugnen können: Die obskure Sache mit Simons verspäteter Geburt hat ihn schon interessiert.
«Wie ist es dann weitergegangen?», hat er nach wenigen Schritten gefragt.
«Der Robert ist auf den Steinhof gekommen, dort gibt’s eine eigene Koma-Abteilung. Dann, nach ein paar Monaten, ist er auf den Himmel verlegt worden. Es war die Idee von der Lotte, also von der Frau Doktor Lang. Sie und der Doktor Tobler haben inzwischen auch hier gearbeitet; die beiden haben alles getan, um dem Robert einen Pflegeplatz zu verschaffen …»
«Und … der Doktor Lang?»
Rebekka rümpft die Nase, schnaubt kurz und verächtlich.
«Der Hardy? Er hat sich, sagen wir einmal … bedeckt gehalten. Er hat Angst gehabt, sich’s mit seinen Vorgesetzten zu verscherzen: Sie waren ja alle drei noch in der Ausbildung – nicht wirklich eine gute Position, um Extrawünsche anzumelden … Man kann ihm keinen Vorwurf machen, dem Hardy, er wollte schon immer hoch hinaus. Er war fest entschlossen, Karriere zu machen.
Ihr werdet’s schon sehen
, hat er einmal gesagt,
eines Tages bin ich der Gott am Himmel
…»
«Verstehe …»
«Ohne die Lotte und den Dieter hätt ich das alles nicht durchgestanden … Vor allem der Dieter, auf den war immer Verlass …»
So weit, so gut, hat der Lemming gedacht. Aber was ist denn nun mit Simon? Haben die Stillmanns ein Konto auf der Samenbank gehabt? Oder ist ihr der Bub direkt vom Himmel in den Schoß gefallen?
Und wieder hat es den Anschein gehabt, als könne
Weitere Kostenlose Bücher