Lemmings Himmelfahrt
Rebekka Stillmann seine Gedanken lesen.
«Wie dann der Simon gekommen ist, hab ich auf einmal wieder gewusst, wofür ich lebe … Vorher nicht; ich muss gestehen, ich war manchmal nahe daran …»
Sie hat den Satz nicht beendet. Was augenfällig ist, muss man nicht auch noch in den Mund nehmen.
«Wenn Shakespeare gewusst hätte … Ich meine, sein Romeo war vergleichsweise ein Glückskind: Er hat wirklich geglaubt, dass Julia tot ist, ohne Wenn und Aber. Sein Eindruck mag falsch gewesen sein, aber sein Entschluss war richtig: Er ist ihr gefolgt. Er konnte eine klare Entscheidung treffen, anders als ich. Der Robert war in einem Zwischenzustand, nicht tot und nicht lebendig, fast wie Schrödingers Katze … Wie hätte ich ihn dahin begleiten können?»
Rebekka ist stehen geblieben und hat den Lemming trotzig angeblickt.
«Also ist mir die Idee mit dem Kind gekommen. Obwohl … Die Idee war eigentlich schon länger da: Der Robert und ich, wir haben uns immer schon Kinder gewünscht, lange vor seinem … vor unserer Hochzeit. Ein weiterer Traum, der damals zerplatzt ist. Dass er noch immer … also, dass es noch immer eine Möglichkeit gibt, darauf bin ich erst mit der Zeit gekommen …»
Ein hintergründiges Lächeln. Dann ist Rebekka weitergegangen.
«Es ist ein offenes Geheimnis hier in der Klinik. Offen, weil man so was nicht verheimlichen kann. Geheimnis, weil es … gegen das Gesetz verstößt. Völlig logisch: Man darf einen wehrlosen Mann nicht so einfach zum Vater machen. Er muss schon seine Zustimmung geben, am besten schriftlich, in zweifacher Ausfertigung und vom Notar beglaubigt. Aber in diesem Fall … Ich wusste ja, dass er Vater werden wollte. Das hat mir gereicht …»
In diesem Moment ist dem Lemming ein Licht aufgegangen.Robert Stillmanns Körperfunktionen mögen aufs Vegetative gedrosselt sein, hat er gedacht, aber auch Pflanzen kommen zuweilen als Blumenstock daher. Die kleine steife Sensation zwischen Stillmanns Beinen ist immerhin bis ins Pförtnerhaus gedrungen: Wie hat Lisa Bauer es so geistreich formuliert?
Seine Bettdecke hat manchmal ausg’schaut wie der Großglockner persönlich
…
«Also sind Sie einfach … ich meine, Sie haben sich einfach auf ihn drauf …»
«Halt!», hat Rebekka Stillmann gerufen, so laut, dass der Lemming vor Schreck die Arme hochgerissen hat. «Ich weiß zwar nicht, was ich für einen Eindruck auf Sie mache, aber wenn Sie glauben, dass ich meinen Mann vergewaltigt hab, dann … dann heben Sie sich Ihre perversen Phantasien für Ihre feuchten Träume auf …»
«Verzeihen Sie … Verzeihen Sie bitte …»
Es sind mindestens fünf Minuten verstrichen, bis sich Rebekka wieder beruhigt hat, fünf Minuten, die dem Lemming wie eine Ewigkeit vorkamen. Schon sind die beiden den Hügel empor auf
Walhall
zugeschritten, das grau umwölkt vor ihnen hochragte, als sie den Faden endlich wieder aufnahm.
«Nein, ich bin es, die sich entschuldigen muss … Ihre Vermutungen sind natürlich nahe liegend. Nur ist da etwas, das Sie nicht wissen können … Ich hab Ihnen vorhin gesagt, dass wir ziemlich religiös waren, der Robert und ich … zugegeben, ich war’s ein bisschen mehr als er. Es mag Ihnen ja reichlich altmodisch vorkommen, aber … Also, ich hatte schon meine Prinzipien. Und ich hab sie noch immer, trotz allem. Meine Vorstellungen von unserer Hochzeitsnacht … Es sollte was Besonderes sein, etwas … Heiliges, wenn Sie so wollen. Kurz gesagt, ich war noch … na, Sie wissen schon.»
Und Rebekka Stillmann ist sanft errötet.
Heilige Mutter Gottes, hat der Lemming gedacht, das ist jawirklich kaum zu fassen. Und er hat sich in diesem Augenblick regelrecht vatikanisch gefühlt: Vor nicht ganz neun Jahren erst, im Herbst 1992, hat Papst Johannes Paul II. Galileo Galileis auf dem kopernikanischen Weltbild basierende Behauptung, die Erde drehe sich um die Sonne, offiziell anerkannt und den großen, einst von der Inquisition zu lebenslanger Haft verurteilten Naturwissenschaftler rehabilitiert – ein drastisches Beispiel dafür, dass Wissen nicht immer stärker als Glauben ist. Ja, der Lemming wusste, was Rebekka meint; es zu glauben ist ihm trotzdem schwer gefallen.
«Ich hätte nie auf diese Art mit dem Robert geschlafen», hat Rebekka nun weitergesprochen, «alleine die Vorstellung ist entwürdigend. Für ihn und für mich. Verstehen Sie das?»
«Ja.»
Aus Angst vor weiteren
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