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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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hat er gesagt. Und prompt hat Gott ihm seinen Wunsch erfüllt   … Falls es diesen Gott überhaupt gibt, ist er der grausamste, widerwärtigste Zyniker, den man sich vorstellen kann   …»

20
    Die Weihnachtszeit pflegten der Apotheker und seine Frau in ihrem Häuschen am See zu verbringen. Zwar standen dort mehrere Pfahlbauten nebeneinander, die man alle von einem langen Holzsteg aus betreten konnte, aber die Nachbarn blieben über den Winter in der Stadt. Weit und breit keine Menschenseele, nur das Apothekerpaar und ich: der perfekte Ort und die perfekte Zeit für eine mustergültige Aktion.
    Am Tag vor dem Weihnachtsfest fuhren wir also an den See. Die Stimmung war gespannt; dafür hatte ich bereits gesorgt: Hier und da ein blondes Haar, auf dem Jackett des Apothekers angebracht, Spuren von Lippenstift auf seinem Hemdkragen, solche und ähnliche Bagatellen hatten die Aufmerksamkeit seiner Frau auf sich gezogen und ihre Streitlust heftig angestachelt. Sie hatte wieder zu trinken begonnen und ihre Liebe zum Whisky entdeckt, was der Sache mehr als dienlich war; ihre Reisetasche war mit Hochprozentigem gefüllt wie der Musterkoffer eines Spirituosenhändlers.
    Die erste Nacht verlief in relativer Ruhe; außer dem Knistern des Kamins im Erdgeschoss und dem Schnarchen der Apothekersfrau im ersten Stock des Hauses war nichts zu hören. Am folgenden Morgen begann es zu schneien. Nach und nach breitete sich eine weiße Decke über die Landschaft, und der Schilfgürtel, der den weiten, grauen See umfasste, glich bald einer Boa aus Hermelin. Gegen die Mittagszeit trat ich auf den Balkon hinaus und beugte mich über die hölzerne Brüstung, um einen Blick auf das Wasser zu werfen. Es schien kurz davor, zu gefrieren; an manchen Stellen konnte ich bereits den zarten Schmelz von Eis erkennen.
    Am frühen Nachmittag stellte ich gemeinsam mit dem Apotheker den Christbaum auf, während sich seine Frau im Ohrensessel am Kamin das erste Gläschen einschenkte. Sie sollte es nicht bei einem bewenden lassen. Aber statt sich wie andere Menschen in Hitze zu trinken, schien sie mit jedem Schluck verschlossener und kälter zu werden: So glich sich die Zimmertemperatur in gewisser Weise dem Außenklima an. Als der Baum geschmückt war und die Dunkelheit hereinbrach, hob sich der Vorhang zum ersten Akt dieses Heiligen Abends.
    «Wusstest du   …», wandte sich die Frau des Apothekers mit schwerem Zungenschlag an mich, «wusstest du, dass dein Vater eine geiler alter Spanner ist?»
    Eine Zeit lang herrschte Stille, die aber schließlich von einem kurzen, trockenen Splittern unterbrochen wurde. Sie hatte ihr Glas ins Leere gestellt.
    «Wenn du einmal eine Freundin hast», lallte sie ungerührt, »dann gib gut Acht, dass der Herr Magister seine Finger von ihr lässt   … Aber auch egal   … Es bleibt ja in der Familie   …»
    Ich sah den Apotheker an, der mit gesenkten Schultern neben dem Christbaum stand. «Nicht schon wieder», murmelte er, «wenigstens heute nicht   …» Dann trottete er hinaus, um Schaufel und Besen zu holen. Inzwischen ließ die Frau ihren trüben Blick durchs Zimmer schweifen.«Wo ist denn   … Meine Tasche   … Muss dir was zeigen   …» Statt des Lederbeutels, der neben ihr auf dem Boden lag, reichte ich ihr die Flasche. «Der versaute Wichsgriffel   … Ich bin ihm schon lang nicht mehr gut genug   …» Sie nahm einen ausgiebigen Schluck, beugte sich schwankend vor und versuchte, ihr Kleid hochzuraffen. «Muschirevue   …», stieß sie hervor, «Muschirevue   … Das kann ich auch   …» Sie verlor das Gleichgewicht, kippte kopfüber aus dem Fauteuil und blieb auf dem Teppich liegen.
    Während der Apotheker die Scherben aufkehrte, brachte ich seine Frau nach oben. Ich legte sie, bekleidet wie sie war, ins Bett, deckte sie zu und nahm die Illustrierte aus ihrer Handtasche. Muschirevue. Ich hatte sie am Morgen im Nachttisch des Apothekers deponiert, weil ich wusste, dass seine Frau beinahe täglich seine Sachen zu durchstöbern pflegte. Danach ging ich zurück ins Erdgeschoss.
    Der Apotheker hatte inzwischen eine neue Flasche geöffnet und sich selbst ein Gläschen eingegossen. Er saß auf der alten Ledercouch und starrte ins Leere. «Ich weiß nicht   …», sagte er, als ich mich zu ihm setzte. «Ich weiß nicht, wie wir ihr helfen können   …» Schließlich hob er den Kopf und sah mich an: «Vergib mir   …», meinte er leise. «Vergib mir, mein Sohn. Du hättest dir eine bessere

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