Lemmings Himmelfahrt
Fettnäpfchen hat sich der Lemming nichts mehr zu sagen getraut. Zugleich hat er aber gespürt, dass ein neuer, ein beinahe zärtlicher Respekt für Rebekka Stillmann in ihm aufkeimt. Diese Frau hat sich’s wahrlich nicht leicht gemacht. Ist ihrem Schicksal mit einem mustergültigen Maß an Anstand begegnet, ohne sich dabei selbst zu verleugnen. Hat sich nicht in verlogenen Posen und bigotten Verrenkungen verloren. Ist einfach nur ihrer Überzeugung gefolgt. Das keusche Konzept vorehelicher Enthaltsamkeit ist ihm zwar mehr als anachronistisch erschienen, aber er hat auch eine gewisse Sympathie dafür empfunden – wenn auch nicht aus christlichen, so doch aus romantischen Motiven …
Inzwischen hatte es zu nieseln begonnen. Rebekka und der Lemming sind in Laufschritt verfallen, haben die letzten Meter rasch und wortlos zurückgelegt, um sich schon bald vor dem Eingang
Walhalls
voneinander zu trennen.
«Nur um die Sache zu Ende zu bringen», hat Rebekka gesagt und dem Lemming die Hand gereicht, «ich habe damals einenanderen Weg gefunden. Mehr darf ich Ihnen nicht erzählen, das hab ich … jemandem versprochen. Nur so viel: Manchmal gibt uns die Wissenschaft vielleicht doch ein wenig Liebe zurück …»
Der Regen ist stärker geworden; er trommelt nun schon seit zwei Stunden sein Stakkato an die Fenster. Im letzten Licht des Tages ziehen Nebelschwaden durch die Täler, zäh und schwer, ein trostloses Bild, ein zermürbender Anblick.
Der Lemming schließt die Terrassentür und schaltet die Stehlampe ein. Setzt sich aufs Sofa, betrachtet die Schatten der Möbel an der Wand. Es wird nun, so schätzt er, auf acht zugehen. Vier Stunden also noch, und er wird endlich dem Mann gegenüberstehen, der verantwortlich ist für diese seine Odyssee. Dem Mann, der ihm das alles eingebrockt hat: Nestor Balint. Vier Stunden …
Der Lemming wartet.
Er nimmt die zweite Dusche des heutigen Abends.
Er knipst die Lampe aus und ein und wieder aus.
Er starrt hinaus in die Dunkelheit.
Mit dem Regen ist auch die Temperatur gefallen. Obwohl die Heizkörper unter den Fenstern mit leisem Knistern ihre Arbeit aufnehmen, beschließt der Lemming, sich anzukleiden. Die Kälte, die draußen herrscht, dient auch nur als Vorwand, als fadenscheinige Ausrede, um sich an Nestor Balints Garderobe zu vergreifen: In Wahrheit geht dem Lemming sein Krankenhemd schon gehörig auf die Nerven. Man
muss
ja irre werden, wenn man diesen Fetzen länger anbehält, denkt er, da kann man vorher noch so sehr bei Sinnen gewesen sein. Früher oder später wächst jeder in die Rolle, die er spielt; die Maske klebt fest und fester, verschmilzt mit dem Mann, der sie trägt, bis er sie irgendwann nicht mehr ablösen kann …
Bald fühlt er sich nicht mehr verrückt, der Lemming, nurnoch riesenhaft und aufgebläht. Balints Hemd platzt fast aus den Nähten, die Hose endet gerade zwei Handbreit unter den Knien, die Ärmel der Jacke wirken wie hochgekrempelt. Wenig Stoff für einen vor Eifersucht berstenden Killer. Was Balints Schuhe anbelangt, so genügt ein Blick aufs Etikett. Größe 38: Sie können nicht passen, also muss es der Lemming tun. Wohl oder übel schlüpft er wieder in die braunen Krankenhauspantoffeln. Kurz überlegt er, auch ein Paar Handschuhe zu probieren, doch eine plötzliche Laune lässt ihn stattdessen zum Lederkoffer greifen, in dem Balints Violine ruht.
Sherlock Holmes hat schließlich auch Geige gespielt, um zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden. Es gehört zur Magie der Musik, dass man mit ihrer Hilfe seine Nervosität auf die Nachbarn abwälzen kann … Schon nimmt der Lemming das Instrument in die Hand, klemmt es zwischen Kinn und Schulter, greift nach dem Bogen, der im Deckel des Koffers festgeklemmt ist, und da geschieht es: Die Geige verliert ihren Halt, schrammt über sein Schlüsselbein und fällt. Gerade noch kann der Lemming sie fangen, zum Glück: Ihr scheint nichts passiert zu sein. Geschehen ist aber doch etwas: Klar und deutlich hat der Lemming ein Geräusch vernommen, ein zaghaftes Flattern nämlich, ein Flattern wie von einem Nachtfalter, der gegen den Lampenschirm stößt.
Mit einer Hand hebt er die Geige über den Kopf, dreht die Saiten nach unten, späht durch die schmalen, geschwungenen Löcher in den Resonanzkörper. Schüttelt ein wenig. Und dann sieht er es: Aus dem Inneren der Geige schiebt sich ein kleines helles Etwas – ein weiteres Stück Papier.
Unmöglich, denkt der Lemming,
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