Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
seinen Mitmenschen nichts. Die Bosheit, die, wie er glaubt, von oben kommt, sieht er als Schicksal und nimmt sie demütig an. Das Schicksal, das ihm seinesgleichen bereitet, sieht er als Bosheit und lehnt es wutentbrannt ab. Er hat nicht viel Respekt vor sich selbst, der Mensch; die Unterwürfigkeit steckt ihm im Blut, er ist der geborene Speichellecker   …»
    Für einen kurzen Moment glaubt der Lemming, ein Licht zu erblicken, das draußen, vor dem Fenster, durch die Baumwipfel huscht. Er bildet sich ein, das Bellen von Hunden zu hören. Aber nichts. Nur eine Wunschvorstellung   …
    «Mit mir», fährt Tobler fort, während er ruhig das Skalpell ergreift, «mit mir willst du also nicht reden. Dem Buchwieser hast dafür alles haarklein erzählt, gell, Robert? Aufs falsche Pferd gesetzt, nennt man das wohl. Und dem Herrn Grock? Ein rhetorischer Wallach, nicht grad das perfekte Sprachrohr. Ich schätze, ich werd ihm trotzdem bald den Gnadenschuss geben müssen   … Ja, und dem Herrn Wallisch? Vielleicht ist ja der das richtige Pferd   … abgesehen davon, dass er momentan ein bisserl lahmt. Wie auch immer, der Herr Wallisch wird sowieso noch eingeweiht, von mir höchstpersönlich. Hoch und heilig versprochen   …»
    Die Zeit ist gekommen. Tobler spreizt mit der Linken die Zehe vom Fuß und schneidet. Er führt das Messer rund um die Zehe, Blut quillt hervor, tropft auf das Plastik. Es ist gar nicht so viel, denkt der Lemming. Gar nicht so viel   … Tobler greift nun zur Schere, drückt ihre Spitze in die Wunde. Fährt energisch unter die Haut, hebt sie an, dehnt sie aus, stülpt sie um wie ein zu langes Hosenbein. Stärker pulsiert nun das Blut, strömt seitlich an Stillmanns Fuß hinab und sammelt sich in einem kleinen roten Teich um seine Ferse. Tobler klemmt eine Ader ab, bindet sie mit Nähgarn zu. Beginnt dann, das Fleisch vom Knochen zu schälen, zu kratzen. Der Lemming röchelt, als sei er Stillmanns akustischer Stellvertreter. Krotznig kommt ihm in den Sinn: Wäre Krotznig nur da   … Jetzt wünscht er sich plötzlich den Todfeind herbei, ja sehnt sich nach ihm. Er will nur, dass das Grauen ein Ende findet, ganz egal, wie   … Lass Robert Stillmann wenigstens die Sinne schwinden, denkt er schließlich, lass ihn bewusstlos werden und erlöse ihn von seiner Ohnmacht   …
    «Zwei Millionen», sagt Tobler jetzt, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. «Zwei Millionen Schilling wollte der Buchwieser von mir   … Nicht, dass ich das Geld nicht gehabt hätte. Aber man muss derlei Stillosigkeiten nicht auch noch unterstützen, finde ich. Wer den Wert der Kunst an ihrem Preis misst, hat weder die Kunst noch den Preis verdient. Verstehen Sie? Die
Mona Lisa
zu stehlen, um sie täglich beim Frühstück betrachten zu können, ist ein durchaus hehres Unterfangen. Sie aber zu stehlen, um sie zu verhökern, ist primitiv und geschmacklos. Dem Buchwieser hat einfach der ästhetische Sinn gefehlt. Man braucht sich nur seine eigenen kleinen Aktionen anzuschauen: unterste Schublade, sag ich nur. Purer Sadismus, reine neurotische Triebbefriedigung   … Er war schlichtweg zu blöd, um von mir was zu lernen, ein klassischer Fall von Selbstüberschätzung   … Nach seiner Kündigung vor zwei Wochen hat er mich also angerufen und erpresst. Zwei Millionen, oder er erzählt die ganze Geschichte weiter: der Frau Stillmann und der Zeitung   … Ich hab ihm ein bisserl Honig ums Maul geschmiert: wie klug er ist und dass seine Schlauheit durchaus belohnt gehört. Dass ich aber noch Zeit brauche, um das Geld zu beschaffen. Ein paar Tage später haben wir uns dann den Treffpunkt zur Übergabe ausgemacht.
Café Dreher
…»
    Tobler schmunzelt, während er mit mehreren kurzen Schnitten die Sehnen an der Zehenwurzel durchtrennt.
    «Und das nach allem, was er mir zu verdanken hatte   … Das Gspusi mit unserer schönen Pförtnerin zum Beispiel. Sie haben die Frau Bauer ja kennen gelernt, Herr Wallisch, und haben ihr gleich den halben Keller leer gesoffen; jedenfalls hat mir ihr Mann so etwas erzählt   … Traurige Sache, sag ich Ihnen, völlig zerrüttete Ehe   … Ohne mich hätt der Buchwieser seine kleinen Buchwiesers in der Klomuschel versenken können statt in der lauschigen Pförtnerloge unserer Concierge   …Aber bitte, zugegeben, ich hab das traute Glück der Bauers nicht auf die Probe gestellt, damit der Buchwieser auch einmal zum Stich kommt. Die waren einfach reif für eine Lektion, für einen kleinen

Weitere Kostenlose Bücher