Lemmings Himmelfahrt

Liebestest. Und den haben sie nicht wirklich bestanden   … Da sehen Sie’s, Herr Wallisch: Vertrauen ist das A und O in jeder Beziehung. Würden die Menschen sich und einander mehr vertrauen, hätte Gott bald keinen Auftrag mehr   …»
    Es knirscht zwischen Dieter Toblers Fingern. Langsam dreht er Stillmanns Zehe aus dem Gelenk, durchschneidet eine letzte vergessene Sehne, die sie noch mit dem Fuß verbindet, und wendet sich dann, das abgetrennte Glied in der Hand, dem Lemming zu.
    «Voilà! Hier haben Sie die Wurzel allen Übels:
diabetische Gangrän
. Bei Zuckerkranken kommt’s leider oft zum Gewebe- und Knochenbrand. Da muss man stante pede handeln, da darf man als Arzt nicht lange fackeln, wenn grad kein Chirurg in der Nähe ist   … Immerhin hat dieses Zecherl schon zwei Leute das Leben gekostet, und zwei weitere sind wohl nicht mehr zu retten, wenn ich das so unverblümt diagnostizieren darf   … Aber keine Angst, Herr Wallisch, Sie kriegen den Rest Ihrer Wahrheit. Ich muss nur noch rasch die Wunde zunähen, damit auch alles gut verheilt. Dann ist unser Robert bald wieder der Alte   …»

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    Unsterblichkeit ist weit mehr als der Sieg über den kleinen Geist des Menschen: Unsterblichkeit ist der Sieg über den Tod, der diesen Geist in seinen Klauen hält   …
    Da waren sie also, die beiden desolaten Liebenden, der Stumme und die Jungfrau, der Brave und die Heilige. Und noch einerwar da, einer jener kleinen Bürger nämlich, deren liebstes Sportgerät die Karriereleiter ist. Ich will ihn den Krawattenmann nennen, denn seine Krawatte war Mittel und Zeichen seiner Gesinnung. Wie ein nervöser Alpinist, der sich auf seinem Aufstieg sichert, band er sie fest an jede neue Sprosse, die er erklomm. Wäre er gestolpert und abgerutscht, es hätte ihn seinen Hals gekostet. Kein Wunder, dass er sich auf den Schlips getreten fühlte, als ich ihn plötzlich, ohne es zu wollen, überholte: Man ließ mich wissen, dass ich für jenen leitenden Posten vorgesehen war, auf den er es von jeher abgesehen hatte   …
    Nachdem das Schicksal den Braven gelähmt, ihm gleichsam ins Hirnwerk gepfuscht hatte, durchschritt seine heilige Frau die üblichen Phasen der Enttäuschung: Entsetzen und Erschütterung zunächst, dann eine maßlose Wut, gefolgt von Verzweiflung, Trauer und Müdigkeit. Viele Menschen verharren in dieser Müdigkeit, bis sie der ewige Schlaf übermannt. Andere verdrängen das Gewesene, stornieren die Aufträge an ein vergangenes Leben und wenden sich einem neuen zu. Die Heilige tat weder das eine noch das andere. Sie wollte das scheinbar Unmögliche, sie wollte den Golem noch einmal zum Leben erwecken. Mir war es eine Freude, ihr dabei zu helfen.
    Medizinisch gesehen funktionierte der Körper des Braven durchaus noch: Sein Herzschlag lief auf vollen Touren, er atmete ohne Probleme, auch seine Verdauung arbeitete einwandfrei. Aufs Vegetative reduziert, konnte er alles, was eine Pflanze können muss, vor allem aber eines: seinen Samen versprühen. Es kommt nicht von ungefähr, dass wir von
Fortpflanzung
sprechen statt von
Fortmenschung
; die Fähigkeit, sich zu vermehren, ist der kleinste gemeinsame Nenner des Lebens. Sie war auch ihm noch gegeben, dem Braven; sein kleiner schlaffer Penis tat zuweilen, was sein großer schlaffer Leib nicht mehr vermochte: Er richtete sich auf.
    Und das blieb der Heiligen nicht verborgen.
    Seit dem Tiefpunkt ihrer Hochzeit war etwa ein Jahr vergangen, als sie mich, nicht weniger verlegen als hoffnungsvoll, um Hilfe bat. Sie fragte mich, ob es möglich sei, von ihrem Mann ein Kind zu bekommen, einen kleinen Schössling von ihrem vertrockneten Zimmerpflänzchen, und sie erwies sich zugleich als wahre Mimose: Sie meinte, es sei ihr nicht bestimmt, mit ihm die Ehe zu vollziehen; seinen halb toten Leib zu besteigen käme einer Vergewaltigung gleich und daher keinesfalls infrage. Außerdem, so fügte sie schamhaft hinzu, sei es ihr unerträglich, sich auf derart prosaische Weise selbst zu entjungfern   … Die Defloration stand also der Bestäubung des Mauerblümchens im Wege, und das war weit mehr als eine Wortspiel: Es war der Auftakt zu einem Drama von biblischen Ausmaßen.
    Ich versprach ihr also, eine Lösung zu finden, und sie vertraute mir so blind, dass sie sich dankbar von mir an die Hand nehmen ließ. Ich konnte sie führen, wohin immer ich wollte, und ich führte sie auch ans Ziel. Dass es ein anderes als das ihre war, bemerkte sie nicht   …
    Ich verkaufte die