Lemmings Zorn
Beunruhigung: «Meine Eltern gehen jedes Jahr zur Mitternachtsmette», hat Angela gesagt. «Auf den Kinzerplatz hinüber, in die Donaufelder Kirche. Den Ben und mich findest du hinten im gartenseitigen Teil.»
Der Lemming öffnet das Tor und geht auf die Haustür zu. Anstatt jedoch zu klingeln, biegt er nach rechts, um sich – entlang der Seitenwand – zur hinteren Front des Hauses zu tasten. Zwischen der Mauer und den hohen Hecken, die das Grundstück umfrieden, herrscht völlige Finsternis, nur ein Stück weiter, wo sich der Pfad zum Garten hin öffnet, streichen Lichtstrahlen über die Schneedecke. Dort also muss Angela wohnen; alles ist so, wie sie es dem Lemming vor etwa vier Stunden beschrieben hat.
«Angela?» Unvermittelt hat sich von links eine menschliche Silhouette in die Bresche geschoben. Keine zehn Meter vom Lemming entfernt verharrt sie, wie ein fluchtbereites Tier geduckt, und lauscht und späht in die Finsternis.
«Angela? Bist du das?»
Keine Antwort. Stattdessen geht jetzt ein Ruck durch den Schatten: So rasch, wie er aufgetaucht ist, verschwindet er wieder hinter der Ecke.
Der Lemming eilt nun weiter, stolpert vorwärts, irritiert und befremdet von der unerklärlichen Begegnung. An der Gartenseite des Hauses angelangt, wendet er sich den erleuchteten Fenstern im Erdgeschoss zu.
Das Bild, das sich ihm hinter den Scheiben präsentiert, hätte Carl Spitzweg nicht biedermeierlicher malen können: ein kleiner Raum, förmlich durchtränkt von behaglich-heimeliger Atmosphäre. Im warmen Licht einer Stehlampe lassen sich hölzerne Möbel erkennen, der Boden ist mit dicken Teppichen bedeckt. An der Wand stehen alte, mit Büchern bestückte Regale, den hinteren, dunkleren Teil des Zimmers beherrscht ein lindgrüner Kachelofen. All das aber bildet nur einen Rahmen für die stille und rührende Szene im Vordergrund: Auf einem breiten, mit bunt gemusterten Polstern und Wolldecken verzierten Bett liegt Ben und starrt fasziniert auf die russische Puppe in seinen Händen. Immer wieder schüttelt er sie, offenbar, um dem Klappern der Figuren in ihrem Inneren nachzuhorchen. Ein selbstvergessenes Lächeln umspielt seinen Mund.
Auf Benjamins Bauch ruht – beschützend und schwer – die Hand des roten Engels. Angela selbst scheint eingeschlafen zu sein: Sie liegt auf der Seite, Ben liebevoll zugewandt, aber die Augen geschlossen.
Beruhigt und zugleich auch ein wenig beschämt ob seines Misstrauens klopft der Lemming ans Fenster. Das ungleiche Paar auf dem Bett nimmt keine Notiz davon. Viel zu versunken sind die beiden: er in das Spiel, sie in den Schlummer.
Erneutes Klopfen, und diesmal mit einigem Nachdruck. Immerhin: Benjamin dreht nun den Kopf. Mit großen, fragendenAugen sieht er zum Fenster hin … und wendet sich wieder der Babuschka zu.
Es ist zwecklos. Und wie immer, wenn etwas zwecklos ist, das man unbedingt will, beginnen Geist und Körper so zu tun, als hätten sie ohnehin vollkommen anderes im Sinn: Ersatzhandlung heißt das auf gut Psychologisch. Der Lemming macht also kehrt und starrt in die Finsternis. Die Finsternis starrt ungerührt zurück. Kein Trost, keine Hilfe, kein Ratschlag. Was nun?
Ein Stück weiter rechts entdeckt er eine schmale Glastür, die – allem Anschein nach – in einen unbeleuchteten Flur führt. Aber da hilft kein Schieben, kein Ziehen und Rütteln: Die Tür ist von innen versperrt. Er geht weiter, umrundet das Gebäude auf der anderen Seite und drückt auf die Klingel neben dem Haupteingang. Minutenlang wartet er, klingelt dann abermals: ohne Erfolg.
Der Lemming friert. Noch einmal kehrt er zurück in den Garten und hämmert gegen die Fenster, dann nestelt er mit klammen Fingern sein Handy aus der Hosentasche, um Angelas Nummer zu wählen. Während er dem Freizeichen lauscht, beobachtet er das Spitzweg’sche Genrebild hinter der Scheibe. Ja, es ähnelt wirklich einem Gemälde, denkt er im Stillen: Nichts dreht sich, nichts bewegt sich; bis auf die wenigen Gebärden Bens, der nach wie vor seine Puppe schüttelt, wirkt die Szene mit einem Mal tot und erstarrt, nur konserviert durch den Firnis des Fensterglases. Der Lemming lässt den Hörer sinken, presst sein Ohr an die eiskalte Scheibe: Leise, aber deutlich kann er aus dem Inneren das Klingeln eines Telefons vernehmen.
Angela rührt sich nicht.
Wahrscheinlich würde er noch lange so im sanften Schneefall stehen: zögerlich, verdrossen und durchfroren. Aber dann geschieht etwas, das seiner Unentschlossenheit
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