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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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langgezogene Töne aus: eine verschwommene, mühsam gestammelte Wehklage. Paul Smejkal beugt sich zu ihr, legt die rechte Hand an ihre Wange und zieht sie behutsam an seine Brust. Ein Schimmern tritt in seine faltigen, hellblauen Augen. «Meine Frau», sagt er gedankenverloren, «kann nicht mehr so gut sprechen   … Ein Schlaganfall, vergangenen Herbst.» Er hebt den Kopf und sieht Polivka an. Wendet sich dann – ganz langsam und stockend, wie gegen den eigenen Willen – zum Bett hin. Unter der Wolldecke ragt eine blasse Hand hervor.
    «Ist sie tot?», fragt Paul Smejkal leise.
    «Ja, Herr Smejkal. So leid es mir tut. Es deutet alles darauf hin, dass sich Ihre Tochter das Leben genommen hat.»
    Es scheint, als habe der Alte Polivkas Worte nicht gehört. Sein Blick ruht lange und stumm auf Angelas verhülltem Leichnam. «Nein», sagt er dann. «Nein, das hat sie nicht.»
    Mit einem Mal herrscht bleischwere Stille im Raum. Der Lemming sitzt wie angewurzelt. Polivka schweigt.
    «
Er
war es.» Die dünnen Lippen des alten Mannes beben vor Erregung. «
Er
hat sie getötet.»
    «Wer, Herr Smejkal? Wen meinen Sie?»
    Der Alte schüttelt den Kopf. «Der Wahnsinn», stößt er hervor. «Der Wahnsinn hat sie umgebracht   … Er hat   … uns alle ums Leben gebracht! Alle!» Und Anna Smejkal stimmt mit heftigem Gewimmer in die heiseren Rufe ihres Mannes ein.
    Polivka seufzt und bedeutet Franz, ihm zu helfen: Gemeinsam schieben sie das Ehepaar mit sanfter Gewalt zur Tür. «Sie sollten sich jetzt ein bisserl ausruhen   … Wenn S’ vielleicht Hilfe brauchen, Unterstützung, ich geb Ihnen eine Nummer, da können Sie rund um die Uhr   …»
    Mit einer ungeduldigen Handbewegung bringt Paul Smejkal den Inspektor zum Schweigen. Er entwindet sich seinem Griff und dreht sich zur Ofenbank um. Zwei, drei Sekunden lang betrachtet er Benjamin mit wehmütigem Blick. «Der Kleine   … Ist das Ihrer?», fragt er dann.
    Der Lemming nickt.
    «Gott sei Dank», sagt der Alte. «Ich hoffe, Sie   … Sie können meiner Tochter verzeihen.» Dann legt er den Arm um seine Frau und führt sie hinaus in die Dunkelheit.

8
    Grau und nebelverhangen lässt sich der Christtag herab, so als wäre er heute am liebsten im Bett geblieben. Ganz im Gegensatz zu den zahllosen Kindern der Stadt, die aufgeregt aus ihren Kojen kriechen und das festlich verheerte Schlachtfeld des Vorabends stürmen. Ungewaschen, in zerknittertenPyjamas tummeln sie sich unterm Weihnachtsbaum, um nachzuholen, was die Nacht ihnen verwehrt hat: mit ihren Geschenken zu spielen. Ritterburgen und Rennbahnen werden aufgebaut, Teddys geknutscht, Traktoren zerlegt und Puppen frisiert, während die Eltern den Frühstückstisch decken – schlaftrunken noch, aber rundum zufrieden.
    Der Tisch in der Servitengasse hat sich den Vornamen
Frühstück
nicht verdient. Keine knusprigen Semmeln zieren seine nackte Platte, kein Schinken und Käse, keine kernweichen Eier. Nur eine Kanne Kaffee, das ja. Der Appetit auf feste Nahrung ist dem Lemming und Klara gründlich vergangen.
    «Ich glaub es nicht. Ich kann es nicht glauben.» Klara starrt mit rotgeränderten Augen aus dem Fenster. «Das hätte sie nie getan. Nicht Angela.»
    Der Lemming zuckt die Schultern. «Ein Kind der Fröhlichkeit ist sie ja nie gewesen», murmelt er. «Und gerade zu Weihnachten bringen die Leute sich jedes Jahr reihenweis um   …»
    «Aber doch nicht, wenn der Kleine dabei ist! Du weißt doch, wie   … wie sie ihn umsorgt hat: Ist ihm eh nicht zu kalt? Hat er Hunger, hat er – Gott behüte – Fieber? Wie eine Mutter war sie zu ihm, übervorsichtig! Und dann willst du mir weismachen, dass sie sich neben ihm vergiftet? Ihn allein lässt? Mit ihrer eigenen Leiche?»
    «Ihr Vater scheint das jedenfalls zu glauben.
Ich hoffe, Sie können meiner Tochter verzeihen,
so hat er’s wortwörtlich gesagt. Von Wahnsinn hat er gesprochen. Und außerdem   …»
    «Außerdem?»
    «Außerdem hat sie, wie’s scheint, schon ihr eigenes Kind auf dem Gewissen   …»
    «Ich bitt dich, Leopold!» Klara schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Trauer ist wie weggewischt aus ihren Augen, auf ihrer Stirn pulsiert die bläuliche Zornesader. «Das glaubst du doch selbst nicht!»
    Sie hat es erkannt. Punktgenau. Der Lemming glaubt selbst nicht, was er da sagt. Er bedient sich nur einer alten Methode der Wahrheits- und Klarheitsfindung: Nimm die Position deiner Gegner ein, argumentiere gegen dich selbst und lass die Denkarbeit von

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