Lemmings Zorn
deinen Freunden verrichten. Eine Vorgehensweise, die stets darin gipfelt, dass am Ende wieder alle einer Meinung sind – aber begründeter, differenzierter als vorher. In diesem Fall zeitigt die Taktik der antithetischen Agitation allerdings einen anderen, vom Lemming nicht minder gewünschten Effekt:
«Eh nicht», gibt er zurück. «Eh nicht glaub ich’s. Ich ertrag es nur nicht, dich so traurig zu sehen. Besser grantig, und wenn’s auch auf mich ist …»
Ein weiterer wütender Blick, ein Nachbeben quasi, und schon lässt sich Klara vom ernstlich bekümmerten Ausdruck des Lemming überzeugen. «Das ist dir gelungen», sagt sie mit einem letzten Anflug von Grimm in der Stimme. «Das ist dir gelungen. Trotzdem müssen wir da etwas unternehmen, man kann doch einen Mord nicht einfach so auf sich beruhen lassen!»
«Und was schlägst du vor? Einen Brief an den Polizeipräsidenten?»
«Blödsinn! Wir sollten … der Sache halt irgendwie nachgehen.»
«Der Sache nachgehen also. Und wie? Wir wissen doch nichts über die Angela, sie hat ja nichts von sich erzählt. Von diesem … diesem Polivka kann ich sowieso keine Hilfe erwarten, der hockt auf seinem breiten Arsch und wartet auf die Pensionierung.»
«Und wenn du noch einmal zu ihren Eltern fährst?»
«Nein.» Der Lemming lehnt sich zurück und verschränkt energisch die Arme vor der Brust. «Das tu ich mir nicht an. Und den beiden schon gar nicht. Du hättest sie sehen sollen: gebrochen, gebeugt, verwirrt, völlig fertig. Besonders dieFrau: ein jämmerliches Häufchen Elend, sag ich dir. Und dann soll ich da hingehen und in frischen Wunden wühlen?
Ach übrigens, nur falls Sie’s noch nicht wissen: Ihre Tochter ist einem Mord zum Opfer gefallen. Ich kann’s zwar nicht beweisen, aber
…»
«Dann mach ich es.»
«Bitte sehr. Viel Spaß.» Ärgerlich greift der Lemming zu seiner Tasse und trinkt. Bitter und kalt ist der schwarze Kaffee. Bitter wie das Leben. Kalt wie der Tod. Schwarz wie dieses durch und durch versaute Weihnachtsfest.
«Siehst du? Auch dir kann man die Schwermut austreiben.» Klara lächelt zum ersten Mal an diesem Morgen. Der Lemming sieht Klara verblüfft in die Augen, grinst dann zurück.
Ein leises rhythmisches Klicken nähert sich nun vom Badezimmer her: Castro tänzelt über das Parkett, trabt mit schlingerndem Hintern am Lemming vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und lässt sich neben Klaras Füßen nieder. Er gähnt – zwar herzhaft, aber mit einem elegischen Unterton –, lässt die Ohren hängen und blinzelt trübe vor sich hin.
«Es tut mir so leid, Castro …» Der Lemming ringt die Hände. «Aber der Stress gestern Abend …»
Castro grunzt. Er wendet sich ab und mustert Klaras Stuhlbein, so als wäre es der allerletzte Rest an Freude, den sein Hundeleben noch zu bieten hat.
«Unter einer Knackwurst geht da gar nichts», stellt Klara mit veterinärer Bestimmtheit fest. Und so steht der Lemming auf, um den Bußgang zum Kühlschrank anzutreten.
«Sie hat also ein Kind gehabt.»
«Scheint so. Und verheiratet dürfte sie auch gewesen sein. Fragt sich nur, wo ihr Mann geblieben ist, der soundso Lehner.»
«Soundso … Auch ein schöner Vorname.» Klara seufzt. «Aufdie Art kommen wir nicht weiter, Poldi. Wir wissen ja nicht einmal, ob – oder was sie gearbeitet hat.»
«Doch», entsinnt sich der Lemming des Telefonats im vergangenen Mai. «Mir scheint, sie hat im Gastgewerbe zu tun gehabt … Disco, irgendwas mit dieser … dieser Technomusik halt. Und irgendwas mit … Motorrädern.»
«Soundso. Irgendwas. Hast du denn niemanden, den du um Informationen bitten kannst? Was ist mit dem alten Bernatzky?»
Der gute Professor Bernatzky, natürlich. Als graue Eminenz der Wiener Gerichtsmedizin und unbestrittener Meister der okzidentalen Obduktionskunst hat sich Bernatzky – so wie alle großen Männer – einen Ruf geschaffen, der mit ebenso respekt- wie liebevollen, jedenfalls die Zeiten überdauernden Kosenamen einhergeht. Als
Sektionschef
wird er von seinen Kollegen bezeichnet, als
Rector des Spiritus
von den Studenten der Anatomie. Bernatzky ist aber nicht nur Herr über Druckstellen und Läsionen, Blutgerinnsel und Schusskanäle, über Totenflecken und Madenbefall, anders gesagt: über das Logbuch, das nun einmal jeder Mörder in Form des von ihm gemeuchelten Opfers am Tatort hinterlässt. Nein, Bernatzky ist auch der einzige Freund, der dem Lemming aus seiner Zeit bei der
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