Lemmings Zorn
ihr meinen Buben anvertraut.»
«Abg’schoben also, das eigene Kind, grad am Weihnachtsabend. Und dann haben S’ der Frau Dings … äh, Lehner das Fenster eing’schlagen.»
«Ja, Herrgott! Was hätt ich denn machen sollen, zum … Kuckuck?»
«Momenterl», Polivka hebt mahnend die Hand. «Momenterl, Herr Wallisch. Jetzt tun wir uns einmal mäßigen, ja? Geben S’ Acht, dass i Sie net glei mitnehm aufs Revier, Butzerl hin oder her. Also ganz ruhig und der Reih nach: Sie sind gegen Mitternacht daher’kommen …»
«Weil ich den Buben abholen wollte! Und dann … Dann war da jemand im Garten. Ich hab ihn nur kurz und im Gegenlicht gesehen, aber …»
«Ihn?», unterbricht Polivka und runzelt die Stirn.
«Das … Das kann ich nicht sagen, ob’s ein Mann war oder eine Frau.»
«Geschenkt. Vielleicht war’s ja das Christkind. Und weiter?»
«Die Türen waren versperrt. Und die Frau Lehner hat sich nicht gerührt. Auf einmal seh ich, wie der Kleine», der Lemming bückt sich und hebt Benjamins Fläschchen auf, «wie sich der Kleine auf ihr Gesicht stützt. Und wie ihr dieses braune Zeug da aus dem Mund rinnt …»
«Kakao», sagt Polivka jetzt. «Kakao mit ein bissel was drin. Ein Schuss Rum …»
«Und ein Schuss Gift.»
«Die Schoklad und der Schnaps stehen oben in der Kuchl, glei neben dem Herd. Und das mit dem Gift werden wir noch sehen. Aufg’schnitten wird sie sowieso, die Frau Dings …»
«Lehner.»
«Genau. Aber mit den Pillen und Pulverln, was die im Nachtkastel hat, kannst a ganzes Krankenhaus betreiben, da mag i mi lieber net durchkosten …» Polivka blickt auf und wendet sich zum notdürftig mit Plastikfolie abgedichteten Fenster, durch das ein Uniformierter hereinwinkt. «Was is denn? Ah so!» Er bedeutet dem Lemming zu warten, schlägt den Mantelkragen hoch und schlurft aus der Tür.
Ein gurgelndes Geräusch dringt jetzt aus Benjamins Hose, und in Sekundenschnelle breitet sich ein strenger Duft im Zimmer aus. Der Lemming drückt den Kleinen an sich. «Gut gemacht», flüstert er ihm ins Ohr.
«Da», sagt Ben. «Addada.» Fröhlich reibt er die Nase an der Brust des Lemming, hält dann inne und rülpst ihm einen großen bräunlichen Fleck aufs Hemd. Karotten, konstatiert der Lemming. Und ein Hauch püriertes Hühnerfleisch.
«Bravo, mein Held.»
Was zählt schon die Unbill eines verschmutzten Kleidungsstücks gegen die beruhigende Gewissheit, dass das eigeneBaby so gesund und normal ist wie die Hochglanzbabys in den zahllosen Elternhandbüchern? Ja, dass es sogar besser funktioniert als in der Gebrauchsanweisung beschrieben: Wo andere Kinder mickrige Bäuerchen machen, da bringt Benjamin stämmige, ausgewachsene Bauern hervor.
Der Lemming blickt sich suchend um, bis er die Reisetasche entdeckt, die er Angela am frühen Abend mitgegeben hat – am Boden steht sie, direkt vor dem Nachttisch. Er durchquert den Raum, tritt langsam ans Bett und betrachtet die Tote. Friedvoll sieht sie aus, wie sie da liegt: Die Stirn entspannt und geglättet, die geschlossenen Augen tief in die bläulichen Höhlen geschmiegt. Der Mund in einer Art gelöst, wie das (neben diversen Gurus und Yogis, die auf billig gedruckten Plakaten für ihre nächsten Seminare werben) nur die Gestorbenen können. Nicht fröhlich, nein, aber doch auf gewisse Weise heiter. Der rote Engel wirkt sorglos und unbeschwert. Heimgekehrt.
«Da!», ruft Ben, als er seine Freundin entdeckt. Grinsend streckt er die Arme aus.
«Ja, mein Schatz. Ja …» Der Lemming drückt Ben einen Kuss auf den Scheitel. Dann bückt er sich, um eine Stoffwindel aus der halbgeöffneten Reisetasche zu holen. Zwischen Kleidern und Spielzeug wühlt er sich tiefer – und stutzt: Ein sanfter Schimmer hat seine Augenwinkel gestreift, ein Lichtreflex unter dem Bett. Der Lemming setzt Ben auf den Boden, kniet sich hin und streckt sich, bis er es zwischen den Fingern hält: ein rotes, in Plastik geschlagenes Schulheft.
Im selben Moment aber kehrt der Inspektor zurück, gefolgt vom winterlich überzuckerten Streifenpolizisten. Rasch lässt der Lemming das Heft in die Tasche gleiten, greift mit der Linken nach Ben, mit der Rechten nach einer Windel und richtet sich auf.
«Soda», sagt Polivka und stampft sich den Schnee von den Schuhen. «Die Sach is erledigt, Herr Wallisch.»
«Was soll das heißen, erledigt?» Der Lemming, der gerade damit begonnen hat, Benjamins Speisereste auf seinem Hemd zu verreiben, hält inne.
«Das
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