Lemmings Zorn
Welt ist nämlich eine Hölle, und aus dieser Hölle kannst du dich nur selbst erlösen. Sei ruhig, sei geduldig, sei sesshaft in dir; versuch nicht, gleich der ganzen Menschheit zu gefallen: Das trennt dich von dem einen Menschen, der es vielleicht wert ist. Vor allem aber: Kümmere dich von Anfang an um deine Kinder. Sonst endest du eines Tages wie ich … Natürlich klingt das alles sehr banal, sehr unliterarisch. Aber damals … Was soll ich machen, so hat sie nun einmal gelautet, die Botschaft. Und in Verbindung mit meinem Schock hat sie mein Leben verändert. Von Grund auf verändert.»
«Inwiefern?»
«Mir ist plötzlich klargeworden, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt sehr wohl so gelebt habe wie er: dauernd fahrig und getrieben, dauernd auf der Suche nach dem Job, nach der Frau, nach den Freunden, die meinem Leben Bedeutungverleihen könnten. In einem fort auf der Suche nach … innerem Frieden. Und zugleich völlig blind dafür, dass man sich diesen Frieden nicht holen kann, sondern nur geben. Wollen Sie wissen, wie? Man beschließt es. Man sagt:
Ich gebe mir Frieden
, und schon hat man ihn. So einfach geht das.»
«Ich weiß nicht …»
«Klingt irgendwie kindisch, ich weiß. Aber Kinder sind eben mehr als nur ungeübte Erwachsene. Sie sind Zauberer, kleine Schamanen, sie sehen Dinge, die uns großen, plumpen Kopfmenschen verborgen bleiben. Selten genug, dass man noch einmal die Chance bekommt, die Welt durch Kinderaugen zu sehen. Ich habe sie damals bekommen – und genutzt. Die Magie zieht nämlich ihre Kreise, sie beschränkt sich nicht auf das persönliche Erleben des Magiers, sondern erfasst seine ganze Umgebung. Wer ruhig ist, wird zum
Ruhepol
, verstehen Sie? Er muss seinem Glück nicht mehr nachlaufen, er zieht es automatisch an.»
«Das heißt also, dass Wünsche erst dann in Erfüllung gehen, wenn man sie aufgibt.»
«Im Gegenteil. Das heißt, dass man Wunden nicht zum Heilen bringt, solange man nervös daran herumkratzt. Es hat nichts mit Resignation zu tun, nur mit Geduld und Entspannung, mit … unbekümmerter Zuversicht, wenn Sie so wollen.»
«Wollen tät ich schon mögen, aber können hab ich bisher nicht geschafft … Also ist das Glück so mir nichts, dir nichts zu Ihnen gekommen.»
«Es hat sich angeschlichen. Auf leisen Sohlen. Zuerst die Freunde, dann der Job und am Ende die Frau … Ein paar Monate nach dem Tod meines Vaters habe ich einen alten Bekannten getroffen. Er war Korrespondent für eine große Schweizer Zeitung und hatte innerhalb weniger Tage einen Bericht fürs Feuilleton abzuliefern:
Bühnen im Hinterhof – Das Wiener Alltagsleben zwischen Drama und Komödie
. Wirhaben uns darüber unterhalten – der arme Kerl war schwer unter Zeitdruck –, und plötzlich sagt er zu mir: ‹Was ist? Hast du nicht Lust, einen Rohentwurf zu dem Thema zu schreiben? Bis übermorgen? Ich formuliere das dann aus und gebe dir die Hälfte meines Honorars. Bei Abdruck wirst du als Co-Autor angegeben.› Ich habe eingewilligt, mit einem Schmunzeln: Was mir noch ein halbes Jahr vorher Schweißausbrüche verursacht hätte, war jetzt … ein Spiel für mich. Wenn auch eines, das ich möglichst gut spielen wollte. Zwei Tage später hatte ich den Artikel fertig. Den Artikel, wohlgemerkt. Nicht den Rohentwurf. Ein rundes, pointiertes Essay; man musste nichts mehr daran ändern. Mein Bekannter hat mir nicht nur die gesamte Gage überlassen, er hat auch darauf bestanden, mich als alleinigen Autor zu nennen. Und er hat mir in der Folge weitere Aufträge vermittelt. Damals ist er vom Bekannten zum Freund geworden.»
«Und der Job zum Beruf.»
«Nach und nach, ja. Mit der Zeit sind verschiedene Angebote gekommen. Von anderen Zeitungen, von Buch- und Theaterverlagen, vom Rundfunk. Es war zwar noch immer ein Spiel, aber ich konnte schon fast davon leben …»
«Wenn Sie nur fast … Wovon haben Sie dann gelebt?»
«Vom Erbe meines Vaters. Jetzt nicht dass Sie denken, er hat ein Vermögen gehabt, aber wenn du einmal an der Burg engagiert bist, kannst du dir zumindest einen finanziellen Polster ansparen. Kein Ruhekissen, aber wenigstens ein … Zierkissen. Eines, mit dem ich möglichst sparsam umgehen wollte, versteht sich. Trotzdem hab ich immer seinen Satz im Ohr gehabt:
Wenn man sonst nichts gelernt hat, kann man immer noch Schriftsteller werden
. Was hätte ich Redlicheres tun können, als sein Geld genau dafür zu verwenden?»
«Da haben Sie recht …
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