Lemmings Zorn
Wie ist es dann weitergegangen?»
«Mit der Frau. Mit dem einen Menschen, der es wert war, ihm zu gefallen. Ich habe sie im Frühling siebenundneunzigkennengelernt, bei den Proben zu einem Stück, das ich geschrieben hatte. Nichts Großes, eine sogenannte Off-Theater-Produktion.»
«Sie war Schauspielerin?»
«Nein, Tontechnikerin. Man kann es nicht beschreiben, wie das ist, wenn man spürt: Der Mensch da ist mein Schicksal. Wenn man es spürt, noch bevor der erste Blick, das erste Wort gewechselt ist. Man sollte es auch gar nicht beschreiben: Noch jeder, der das probiert hat, ist daran gescheitert. Nur so viel: Nach den Proben, als wir alle in ein nahe gelegenes Wirtshaus gegangen sind, haben wir miteinander geredet. Fünf Stunden lang. An einem kleinen Tisch auf einer völlig leeren Fläche inmitten des überfüllten Lokals. Die anderen Gäste – auch unsere Kollegen – haben drei Meter Abstand zu uns gehalten, die haben sich regelrecht an den Wänden zusammengedrängt: Man hätte glauben können, wir stinken, sie und ich, wir stinken bestialisch, so wie wir da sitzen und reden. Der Regisseur hat mir erst Wochen später den Grund genannt. ‹Keiner hat sich getraut, euch zu nahe zu kommen›, hat er gesagt. ‹Man hätte sich an euch zu Tode elektrisiert.› Verstehen Sie das?»
«Allerdings. Mit Hochspannung soll man nicht spielen.»
«Genau. Deshalb ist damals auch Ernst geworden aus dem Spiel. Kein bitterer, im Gegenteil: ein blühender, großer, erhabener Ernst. Einer, der einen erschaudern lässt. Die Art von Schicksal, in die man sich nicht fügt, sondern …»
«Stürzt.»
«Kopfüber. Man weiß, wenn man diese Chance verwirkt, hat man alles verwirkt. Und wenn sich dieses Los als Niete entpuppt, wird man nie wieder eines kaufen.»
«Also doch – in gewisser Weise – ein Spiel.»
«Nur dass man der Spieler, der Ball, das Feld und das Tor in einem ist. Alles zugleich. Jetzt haben Sie mich doch dazu gebracht, es beschreiben zu wollen …»
«Entschuldigung.»
«Am nächsten Tag haben wir uns wiedergesehen, im Theater. Seltsam, aber es war plötzlich so etwas wie … Trotz zwischen uns. Eine Mischung aus Protest und distanzierter Befangenheit. Als wären wir zwangsverheiratet worden … Und das waren wir ja irgendwie auch: füreinander bestimmt. Wir haben ja beide gewusst, da gibt es kein Entkommen mehr. Nach ein paar kleineren Startschwierigkeiten ist der Zug dann auch abgefahren.»
«Der Zug ins Glück.»
«Glück, Segen, Erfüllung. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Der Rest dieses Jahres war … ein einziger Rausch. Und nicht nur in privater Hinsicht. Alles, einfach alles hat geklappt, alles ist aufgeblüht, alles hat Früchte getragen. Das Theaterstück war ein solcher Erfolg, dass die Laufzeit verlängert wurde. Im Herbst ist mein erster Roman erschienen und hat es sofort auf die Bestsellerlisten geschafft. Lesereisen, Interviews und eine Fülle an – zusehends lukrativen – Angeboten. Trotzdem nichts, das ich nicht aus dem Ärmel geschüttelt hätte, konzentriert, aber locker und voller Freude. Es war eine Lust, eine riesige Lust, die sich aus sich selbst genährt und an sich selbst gesteigert hat. Aber die Wurzel und der Gipfel dieser Lust … war meine Ehefrau.»
«Wie, Ihre Ehefrau? So rasch?»
«Wir haben schon Ende August geheiratet. Anfangs haben wir zwar noch getrennt gewohnt, sie im dritten, ich nach wie vor im sechsten Bezirk. Eine Fernbeziehung, wenn Sie so wollen. Aber wir haben schon bald beschlossen, uns gemeinsam etwas zu suchen. Ich hatte ja noch immer das Geld meines Vaters auf der Bank, und so, wie sich die Dinge beruflich entwickelten … Es hat beileibe nicht so ausgesehen, als würde ich es noch brauchen, um über die Runden zu kommen. Also habe ich vorgeschlagen, eine Eigentumswohnung anzuschaffen. Ein Nest, das wir ganz nach unseren Wünschen gestaltenkönnen. Und ein Nest, das auch noch unseren … unseren Kindern zugutekommen würde – zum Wohnen oder zum Verkaufen, je nachdem. Und dann – gegen Jahresende – haben wir unsere Wohnung gefunden, unseren Traum. In der D’Orsaygasse.»
«Im Neunten?»
«Ja, in der Rossau. Dritter Stock, hundertzwanzig Quadratmeter. Genügend Platz, um nicht nur da zu wohnen, sondern auch zu arbeiten. Parkettböden, Stuckdecken, große, helle Zimmer. Und dann der Blick aus den Fenstern: Ein grüner, mit Bäumen und Sträuchern bewachsener Innenhof, eine Oase der Stille. Man hat nichts gehört als das
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