Lemmings Zorn
Frühling zweitausendzwei haben sie Pause gemacht. Obwohl die Bauarbeiten noch nicht abgeschlossen waren: Die Dachwohnungen im Rohzustand, der Lift noch immer in der Liftfabrik. Und auch von unserer Terrasse keine Spur. Aber bitte, wenigstens Ruhe. Dachten wir.»
«Dachten Sie?»
«Damals im April hat die Ratte in einer Nacht- und Nebelaktion den Innenhof roden lassen. Entwurzelte Sträucher, zwei umgesägte Bäume – klarerweise mit entsprechenden Bestätigungen, dass sie unrettbar vom Pilz befallen waren. Stattdessen ist ein Rollrasen gelegt worden, ein scheußlicher, steriler Rollrasen, wie vor irgendeinem Reihenhaus im Ruhrgebiet. Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Wir haben beide geheult. Und wir haben noch mehr geheult, sobald uns klarwurde, warum diese Sauerei: Die Ratte hat unseren Hof, unseren Schlafzimmerdschungel, in Privatgärten verwandelt, in Schrebergärten für die Wohnungen im Parterre. Undwieder: alles legal, alles im gesetzlichen Rahmen. Die Wohnungen hat er dann teuer vermietet, an junge, kinderreiche Familien. Sie können sich vielleicht vorstellen, was das bedeutet.»
«Nun, ich …»
«Sandkisten, Planschbecken, Geburtstagsfeste, Grillpartys. Familienhunde natürlich. Kreischen und Lachen, Singen und Bellen. Garniert mit dem Duft von Koteletts und gebratenen Würstchen. Eine weitere, unausgesetzte Demütigung: Fremde machen sich bei Ihnen breit, quartieren sich in Ihren vier Wänden ein, wickeln ihr Privatleben in Ihrem Bett, in Ihrer Küche, in Ihrem Scheißhaus ab. Und Sie haben keinerlei Recht, etwas dagegen zu tun! Schauen Sie mich nicht so an. Unterstehen Sie sich, mir jetzt auf die perfide Tour zu kommen, auf diese alte, abgelutschte Art, um andere Leute mundtot zu machen. Dass man etwas gegen Kinder habe. Dass es doch nichts Schöneres gebe als ein helles Kinderlachen, das die Luft erfüllt.»
«Das hatte ich gar nicht vor. Ich …»
«Wir wollten schließlich selber welche! Aber wir wären nicht im Traum auf die Idee gekommen, die Akustik, die nun einmal mit Kindern einhergeht, auch allen anderen aufzuzwingen, in einer Häuserschlucht, zwischen Hunderten Menschen, die in diesem Schalltrichter ihr eigenes Leben zu leben versuchen.»
«Die ein Theaterstück schreiben müssen.»
«Die vier Theaterstücke schreiben müssen! Damals saß ich bereits beim zweiten. Das erste –
Feuer
– hatte ich schon abgegeben. Ein wirres, unspielbares Machwerk. Es ist nie zur Aufführung gelangt, aber die Leute vom Volkstheater waren immerhin so nett, mir eine zweite Chance zu lassen. So nett, mich für den Schmarren zu bezahlen, den ich ihnen geliefert hatte, sind sie allerdings nicht gewesen. In diesem Frühling konnte ich wenigstens daheim arbeiten. Bei geschlossenenFenstern, um den Trubel im Hof, so gut es ging, auszublenden. Die Amseln haben ohnehin nicht mehr gesungen … Und wieder verändert man sich: Man hört auf, sich auf den Sommer zu freuen, auf Sonne und Wärme. Jeder düstere, kalte, verregnete Tag wird zum Geschenk, weil man nur noch an düsteren, kalten, verregneten Tagen Herr über sein eigenes Zuhause ist.»
«Und die anderen?»
«Wie, die anderen?»
«Na, die anderen Hausbewohner. Haben sich die nicht gestört gefühlt?»
«Es gibt weniger Heimarbeiter, als Sie denken. Und weniger Denkarbeiter, als Sie glauben. Die waren alle außer Haus, tagsüber. Und abends, wenn draußen gefeiert wurde, haben sie eben ihre Fernseher lauter gedreht. Die haben sich höchstens über den Dreck aufgeregt, über den Dreck von der Baustelle. Und darüber, dass es noch immer keinen Lift gab. Uns war das eine genauso egal wie das andere: Scheiß auf den Dreck, scheiß auf den Lift. Nein, wir wollten nur unser Leben wieder, unser ungestörtes Leben. Nichts als Ruhe, Ruhe, Ruhe … ‹Lieber Gott, gib mir den Himmel der Geräuschlosigkeit. Unruhe produziere ich allein. Gib mir die Ruhe, die Lautlosigkeit und die Stille. Amen.› Wissen Sie, von wem das stammt?»
«Ich bin mir nicht sicher. Von einem Schriftsteller?»
«Ja. Von Kurt Tucholsky.»
16
Während der Lemming seine Schritte abermals in Richtung Josefstadt lenkt, beginnt es zu nieseln. Kein richtiges Nieseln allerdings, sondern eher ein halbgares Schneien, ein Graupeln, das die Haftkraft des Schnees mit der Nässe des Regens auf schurkische Art kombiniert.
Mit hochgeschlagenem Kragen und tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen späht er die Lenaugasse entlang zum
Farnleithner
hinüber – ganz nach Manier jener
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