Lemmings Zorn
Wir haben Witze gemacht, als sie vor unseren Fenstern Gerüste hochgezogen und das Stiegenhaus aufzustemmen begonnen haben. Dass wir uns wenigstens den Wecker nicht mehr stellen müssen. Dass wir den Strom für die Musikanlage sparen. Witze eben, müde Witze. ‹Hauptsache, es geht etwas weiter›, haben wir jeden Morgen gesagt, wenn wir um halb sieben aus dem Bett gehämmert, gebohrt, gesägt und gebrüllt worden sind.»
«Gebrüllt? Wieso gebrüllt?»
«Bei den meisten Bauarbeitern scheint es zur Berufsehre zu gehören, dass sie versuchen, so laut wie die Maschinen zu sein, die sie bedienen. Auch wenn sie sie gerade nicht bedienen. Nach fünf Monaten jedenfalls, Anfang neunundneunzig, sind uns die Witze ausgegangen. Verstehen Sie, es hat einfach nicht aufgehört, nicht und nicht aufgehört. Ich habe die Ratte immer wieder zur Rede gestellt: ‹Das geht so nicht weiter, das war so nicht abgemacht.› Und er darauf mit seinem glatten, falschen Grinsen: ‹Selbstverständlich, selbstverständlich›, nur sei eben leider dieses und jenes dazwischengekommen, ein säumiger Lieferant, eine unerwartete Weisung des Baureferenten, was weiß ich, es ist ihm jedes Mal etwas Neues eingefallen. Und der Lärm … Es hat kein Ende genommen, es ist immer und immer weitergegangen: Tag für Tag ist der Adler gelandet und hat unsere Lebern gefressen, Tag für Tag ein prometheischer Schmerz, ein Abgrund, ein blutiger Felsen, an den man geschmiedet ist. Vergebliches Flehen um Gnade. Dann plötzlich Pause, ein paar Tage, eine Woche vielleicht. Man glaubt schon fast, man hat es überstanden, und wenn dann eines Morgens wieder die Meißel und Schlagbohrer einsetzen, will man nur noch sterben. Oder töten. Ja, man verändert sich in der Hölle. Nie weiß man, wann die Folter einsetzt, wann sie endet. Man beginnt, sein ganzes Leben nachdem Schlimmsten auszurichten, nach jedem nächsten Tag von Hunderten nächsten Tagen, an denen man zur Flucht bereit sein muss. Man verliert jede Fähigkeit, fröhlich zu sein und entspannt, man wird weinerlich, reizbar und bissig. Man kann gar nicht anders, als sich zu verändern, wenn man täglich gequält und erniedrigt wird, wenn man rechtlos und ohnmächtig ist gegen diese beharrlichen Übergriffe. Zuerst verliert man die Freunde, dann die Arbeit, und am Schluss …»
«Am Schluss?»
«Die Gesundheit. Die Frau. Und noch mehr. Wenn jemand ohne Ende auf Ihren Lebensnerv eindrischt, wochen-, monate-, jahrelang, dann kommt Ihnen alles abhanden. Die Hoffnung streikt, die Phantasie zieht sich zurück, die Gedanken sind wie amputiert. Ich bin durch die Kaffeehäuser gezogen, um meine Arbeit weiterzubringen. Aber wie soll man schreiben, wenn einen nichts mehr beherrscht als die Verzweiflung? Die Wut darüber, dass man sein ganzes Geld, mehr als sein ganzes Geld in eine Wohnung gesteckt hat, nur um jetzt auf der Straße zu stehen, als Obdachloser? Die Angst davor, dass man beruflich versagen wird, versagen muss? Nach einem Jahr bin ich ins Volkstheater und habe darum gebeten, die Abgabefrist für das Stück zu verlängern; nach eineinhalb Jahren war die Rohfassung fertig.»
«Immerhin.»
«Immerhin war es ein Dreck. Man hat mir nahegelegt, es von Grund auf zu überarbeiten, am besten völlig neu zu schreiben. Immerhin. Immerhin hat man mich noch nicht fallengelassen, damals.»
«Und die Baustelle?»
«Dreieinhalb Jahre. Fürs Erste. Dreieinhalb Jahre bebende Wände, Erdstöße, kreischende Luft, Explosionen im Kopf. Motorsägen: Man glaubt, dass es einem das Hirn zerreißt. Oder Bohrmeißel. Kennen Sie das Geräusch eines Bohrmeißels?Dieses Rasseln und Rattern, dieses Dröhnen in den Mauern?»
«Hilti.»
«Ja, die stehende Bezeichnung dafür ist
Hilti
. Ähnlich diesen Limonaden oder Klebstoffen, die man fast nur noch nach ihren Erzeugerfirmen benennt. Klingt lustig, nicht? Hilti. Wie die Triangel unter den Lärminstrumenten. Aber lustig ist es wohl nur für die Familie Hilti selbst. Die sitzt nämlich auf ihrem Liechtensteiner Anwesen, ohne sich vom Wüten ihrer Hiltis behelligen lassen zu müssen. Dreieinhalb Jahre in einer Bohrmeißelgrube. Dazwischen die Ratte, die mit aufgesetzter Geschäftigkeit durchs Haus gehuscht ist, um ihre persönliche Goldgrube zu inspizieren: ‹Selbstverständlich, selbstverständlich.› Ich wollte nur noch eines: Ihm eine seiner Hiltis an die Stirn setzen und mich durch seinen beschissenen Schädel meißeln.»
«Und dann? Nach den dreieinhalb Jahren?»
«Im
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