Lemmings Zorn
sattsam bekannten Schwarzweiß-Detektive, die in den dreißiger Jahren die Straßen Chicagos bevölkerten, um durch kleine Löcher in großen Zeitungen die Welt zu inspizieren. Nur dass der Lemming keine Zeitung hat, die seinen Horizont beengen würde. Obwohl er also seinen Blick auf das Lokal gerichtet hält, um eine unverhoffte Begegnung mit der künftigen Exfrau des Szenewirten, der blonden Patronin und Grande Dame des Etablissements, kurzum: mit der Farnleithner’schen Schastrommel zu vermeiden, fällt ihm zugleich eine Gestalt ins Auge, die auf dem gegenüberliegenden Gehsteig steht. Ein schlanker, älterer Herr, genau vor dem Eingang des Hauses, in dem – laut Telefonverzeichnis – Josefine Mally wohnen soll.
Der ältere Herr scheint zu telefonieren. Man kennt das mittlerweile zur Genüge: Winzige Sender, im Ohr verborgene Drähte, und schon vermeint man, von lauter Verrückten umgeben zu sein, von Irren, die wild gestikulierend durch die Stadt laufen und Selbstgespräche führen. Monologe über Beziehungskrisen, Großwetterlagen und Aktienkurse, laut genug, dass man noch zwei Straßen weiter jedes Wort mitschreiben kann. Die Behauptung dieser Irren, mittels virtueller Kabel mit anderen Irren verbunden zu sein, bleibt letzten Endes unbeweisbar. Sie hören Stimmen, das muss genügen. Es ist eine gute Welt, um darin den Verstand zu verlieren: Man kann immer noch sagen, man telefoniert.
Der Mann auf dem Gehsteig bleibt allerdings stumm. Auch gestikuliert er nicht mit den Händen, die er ähnlich dem Lemming in seinen Manteltaschen verborgen hat, um sie vor der Kälte zu schützen. Der einzige Hinweis darauf, dass er ein Gespräch führt – wenn auch eines, das wohl ausschließlich von seinem Gesprächspartner bestritten wird –, der einzige sichtbare Hinweis also ist sein stetiges, stilles Verneinen. Angestrengtblickt er zu Boden und verneint und verneint und verneint; er schüttelt den Kopf wie ein Innenminister, dem Amtsmissbrauch vorgeworfen wird.
Der Mann vor Josefine Mallys Haus telefoniert nämlich nicht; er hat nur das Pech, Klaus Jandula zu sein, Klaus Jandula, der vom Schicksal so flagrant gebeutelte Musikwissenschaftler.
Reflexartig hechtet der Lemming zur Seite, hüpft in den Rinnstein, um sich hinter einem der geparkten Autos zu verbergen. Symmetrie, so fährt es ihm jetzt durch den Sinn, Symmetrie: Die Spiegelgleichheit, von der Klara vorhin gesprochen hat, nimmt immer präzisere Formen an. Und als nur wenig später eine schmächtige Frau aus dem Eingang tritt, dem Wartenden zunickt und ihm die Hand reicht, da ist sie fast schon perfekt, die Symmetrie: Der Lemming kennt nicht nur Jandula; auch der Anblick der Frau ist ihm vertraut. Es ist die Frau auf dem Foto aus Jandulas Wohnung, die Frau mit den verhärmten Augen vor der venetianerroten Wand. In Gedanken schreibt der Lemming ihren Namen auf den unteren Rand der Fotografie: Josefine Mally.
Durch die Scheiben des Wagens beobachtet er nun, wie Jandula versucht, der Frau die Hand zu küssen: die Geste eines Kavaliers der alten Wiener Schule, eine Geste freilich, deren natürliche Eleganz vom periodischen Zucken des kusswilligen Kavaliers gehörig beeinträchtigt wird. Zwei-, dreimal schnappt Jandula nach der Frauenhand, dann lässt er es gut sein. Der Wille zählt schließlich fürs Werk: ein Leitsatz, der nicht nur für österreichische Fußballspieler gilt.
Mally und Jandula setzen sich jetzt in Bewegung, spazieren Seite an Seite die Lenaugasse hinab, auf das Versteck des Lemming zu. Der geht in die Knie, duckt sich hinter das Heck des schützenden Automobils.
Manchmal ist es einfach Pech, wenn Autos klaglos anspringen. Das galt nicht nur für den Lincoln Continental John F.Kennedys, damals, in Dallas, nein, das gilt auch für den Opel Corsa vor der Nase des Lemming, heute, in der Josefstadt. Der Motor röhrt auf, der bebende Auspuff spuckt eine flirrende Giftwolke aus. Schon spannt der Lemming die Muskeln an, um nach links auf die Fahrbahn zu hechten, als er das Brummen eines anderen, sich zügig von hinten nähernden Wagens vernimmt. Er bleibt also hocken, mit tränenden Augen, würgend und röchelnd und rotzend, bis ein lautes Knirschen im Getriebe dem weiteren Gang der Ereignisse vorgreift. Dem Rückwärtsgang nämlich. Langsam kommt die Stoßstange des Opel auf den Lemming zu …
Was soll’s. Dann eben doch nach rechts.
Ein Paar schwarze Stiefeletten, ein Paar rotbraune Boots. So viel zum Schuhwerk Jandulas und Mallys.
Weitere Kostenlose Bücher