Lemmings Zorn
Ein Schuhwerk, das nun durch den vor ihm liegenden Mann am Weitergehen gehindert wird. Als wäre ein Bauchfleck in den rußigen Schneematsch etwas Alltägliches, richtet der Lemming sich auf, wischt seine Hände am Mantel ab und nickt den beiden freundlich zu.
«Herr Jandula! Wie schön, dass wir uns so bald wiedersehen. Frau Mally, nehme ich an.»
Klaus Jandula starrt auf den Lemming, während Josefine Mally halb bestürzt, halb fragend zwischen den zwei Männern hin- und herblickt. Dann aber gibt Jandula etwas von sich, das dem Kavalier der alten Wiener Schule krass widerspricht, etwas ganz und gar Ungalantes, wenn auch Verzeihliches, in Anbetracht der Situation. «Wenn man den Esel nennt, kommt er g’rennt», raunt er Mally zu.
Wenig später sitzen die drei im Café
Eiles
an der Josefstädter Straße, das – wie der Lemming auf dem Weg hierher erfahren hat – ohnehin das Ziel von Mallys und Jandulas Spaziergang war. Ruhig ist es hier, beschaulich, die Zeitungen knistern, der Kellner streift wie auf samtenen Pfoten durch dieRäume. Ab und zu lässt sich das leise Klicken eines Feuerzeugs vernehmen.
Auch die Frau und die zwei Männer wirken ruhig, zumindest äußerlich. Über dem marmornen Tisch, hinter den steinernen Mienen aber brodelt es. Und zwar gewaltig.
«Wer sind Sie wirklich, Herr Wallisch? Was wollten Sie gestern vom Prantzl?», eröffnet Jandula mit verhaltener Stimme und umso heftiger schlenkerndem Schädel das Gespräch.
«Wieso? Wie meinen Sie das? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Reporter …»
«Ein Journalist, der sich auf hinterhältige Art bei anderen Menschen einschleicht? Bei ahnungslosen Menschen? Der sich von den Leuten Kaffee servieren lässt, um ihnen dann Privatfotos zu stehlen?»
«Wer, wenn nicht ein Journalist?», wagt der Lemming grinsend zu erwidern.
«Und noch dazu mit Hilfe eines Babys! Haben Sie das Kind darauf dressiert? Während Sie die Opfer ablenken, schnüffelt der Kleine im Zimmer herum? Nach geheimen Dokumenten und Fotografien?»
«Ach!» Der Lemming wittert eine Chance, sich aus der Defensive zu befreien. Er zieht die Aufnahme aus seiner Jackentasche, legt sie auf den Tisch. «Dann ist das hier also geheim! Darf man fragen, warum?»
«Nicht geheim», murmelt Jandula, «nur privat.»
«Das Foto geht Sie überhaupt nichts an», mischt sich jetzt auch Josefine Mally ein, die bislang blass und stumm neben Jandula gesessen ist und den Lemming mit unverhohlenem Widerwillen gemustert hat. «Nicht das Geringste geht es Sie an. Woher kennen Sie denn überhaupt meinen Namen?»
«Woher glauben Sie denn überhaupt zu wissen, dass ich kein Reporter bin?», kontert der Lemming.
«Weil es keinen Wallisch bei der
Reinen Wahrheit
gibt», ergreift nun wieder Jandula das Wort. «Ich hab mich nachIhnen erkundigt, in der Redaktion. Sogar in der Buchhaltung habe ich nachgefragt. Aber kein Wallisch, weit und breit keiner, im ganzen Pressehaus nicht.»
So lange es auch dauern mag, ein Pressehaus zu bauen, so rasch kann ein Lügengebäude in sich zusammenstürzen, gleichgültig, ob es auf papiernen oder auf tönernen Füßen steht. Das muss der Lemming nun einsehen. «Okay», sagt er, «okay …», und senkt den Kopf.
«Also sagen Sie schon, was Sie sind! Polizist? Detektiv?», setzt Jandula ärgerlich nach. Und Mally gibt ihm Schützenhilfe: «Gehören Sie etwa … zu denen?»
«Zu denen?» Mit einem Mal verspürt der Lemming das Bedürfnis, die beiden zu reizen, zu schikanieren, ähnlich einem Angeklagten, der dem Staatsanwalt die lange Nase zeigt.
Fragen Sie doch einfach Ihren Mann», bellt er zurück. «Der muss es ja wissen. Falls er nicht gerade in Teheran ist, um irgendwelche psychopathischen Staatspräsidenten in miserabel geschnittenen Anzügen abzuknallen.»
Das hat gesessen. Für einen Augenblick herrscht Stille am Tisch, eine Stille, die der Lemming als Schrecksekunde interpretiert, als eine jähe Bestürzung, wie sie die vermeintlich Überlegenen ergreift, sobald sie ins Hintertreffen geraten. Er hat wohl einen wunden Punkt getroffen, einen empfindlichen Nerv seiner Kontrahenten berührt, wenn es ihnen nun derart die Sprache verschlägt. Für einen Augenblick lässt sogar Jandulas stetiges Pendeln nach; mit dem Blut in seinen Adern scheinen auch seine unkontrollierten Bewegungen zu gefrieren. Seltsam nur, dass Jandulas Leiden im selben Moment auf die Frau an seiner Seite, auf Josefine Mally, überspringt. Sie ist es, die jetzt den Kopf schüttelt,
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