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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Blumenhändler gerade den Rollladen hoch, das Wellblech donnert nach oben, rastet mit einem Peitschenknall ein. Benjamin kreischt. Die Flucht führt nach rechts, der Lemming hält inne und späht voller Argwohn zum Altglascontainer, der an der nächsten Kreuzung steht. Die Luft scheint rein, das Wagnis, den Behälter zu passieren, gering. Wäre da nicht die kleingewachsene, mit prallen Plastiksäcken bewaffnete Frau, die sich – geschickt vor den Blicken des Lemming verborgen – von der Fahrbahn her nähert. Schon zerbirst ein Schwall leerer Flaschen, explodiert mit grellem Klirren im Bauch des Containers. Auch schon egal: Auf der anderen Straßenseite treten zwei Arbeiter aus einem Haus, um Bretter in die davor abgestellte Baumulde zu werfen. Vielleicht ist ihr ohrenbetäubendes Poltern der Grund dafür, dass die Alarmanlage eines daneben geparkten Mercedes aufzuheulen beginnt.
    Benjamin kreischt und kreischt und kreischt. Der Lemming läuft und läuft und läuft. Von allen Seiten her prasseln die Spießruten auf ihn nieder, die gespenstischen Geißeln der Niedertracht: Spiegelbilder seiner eigenen rotierenden Gedanken.
     
    «Schlecht schaust aus, Wallisch. Aber dein Buberl dafür   … Gelungen. Wirklich gelungen.» Professor Bernatzky rückt seine Brille zurecht und beugt sich noch ein wenig tiefer über den Kinderwagen. Gerade, dass sein schlohweißer Bart den Kleinen nicht an der Nase kitzelt. Der alte Bernatzky lächelt versonnen; Ben atmet leise: In den stillen Fluren der Forensik ist er endlich eingeschlafen.
    «Nimm Platz, Wallisch, setz dich.» Bernatzky richtet sich auf und tritt an seinen Schreibtisch, der vor Stößen von Akten und Büchern, vereinzelten Knochenresten und Batterien seltsam geformter Phiolen förmlich überquillt.
    «Danke, Professor. Aber   … ich bleib lieber stehen.»
    Ein prüfender Blick, dann ein ahnendes Grinsen. «Probleme mit deinen vier Buchstaben?», fragt Bernatzky augenzwinkernd. «Hast dir ’leicht die Coccyx ramponiert?»
    «Wenn diese Coccyx das Steißbein ist, ja.»
    «Natürlich ist sie das, Wallisch.
Os coccygis
auf Latein. Da kannst du einmal sehen, wie komplex wir Primaten gebaut sind. Wenn uns nicht ab und zu etwas weh tun tät, wüssten wir gar nicht, woraus wir bestehen. Und wenn uns einmal nix mehr weh tut, ist es zu spät; dann bleib nur noch ich, um es zu wissen.» Bernatzky krault sich nachdenklich den Bart und tritt ans Fenster. «Aber wegen deinem Hinterteil bist du ja nicht gekommen. Die Bekannte von dir, diese Frau Lehner, die hab ich mir gestern schon ang’schaut.»
    «Gestern?», wirft der Lemming ein. «Am Sonntag?»
    «Stefanitag und Sonntag, um genau zu sein. Ein doppelter Festtag: das beste Datum, um etwas zu feiern. Und wosoll ein alter Aufschneider feiern, wenn nicht am Seziertisch ?»
    «Aber   … Was haben Sie denn zu feiern?»
    «Später, Wallisch, später.» Bernatzky wendet sich dem Lemming zu. «Also pass auf, die Sache ist folgende: Pentobarbital, ein hochwirksames Barbiturat. Daran ist die Frau Lehner gestorben. Sie dürft’ es getrunken haben, aufgelöst in heißer Schokolade, vielleicht auch in kalter: Die Temperatur des Kakaos hat sich gestern leider nimmer feststellen lassen. Bisserl was Alkoholisches war auch dabei, aber gewiss keine tödliche Dosis.»
    «Und woher bekommt man das Zeug?»
    «Das ist die kleinste Hexerei. An jeder Ecke kannst du’s kriegen.»
    «Ich   … hab jetzt aber nicht den Alkohol gemeint, sondern das Dings, dieses Pento   …»
    «Ich auch», gibt Bernatzky schmunzelnd zurück. «Deine bezaubernde Frau zum Beispiel, die hat’s sicher kiloweis’ in ihrem Giftschrank stehen. Früher hat man’s zum Schlafen genommen, heut nimmt man’s eher zum
Schläfern
, zum Einschläfern nämlich. Ein Rennpferd bricht sich die Fesseln? Pentobarbital. Ein Hunderl mit inoperablen Tumoren? Pentobarbital. Ein lebensmüder Eidgenosse? Pentobarbital.»
    «Eidgenosse? Wieso Eidgenosse?»
    «Weil bei den Schweizern die Sterbehilfe erlaubt ist, im Gegensatz zu uns. Und was verwenden sie dafür? Genau. Fünfzehn Gramm und ein letztes Adieu: Zuerst schlafst ein, und dann hörst auf zum atmen. Angeblich vollkommen schmerzfrei, was sich klarerweise leicht behaupten lässt, solang man’s nicht selber probiert.» Bernatzky legt eine Pause ein, verschränkt die Arme vor der Brust, sinniert. «Ich hab heut früh schon mit dem Polivka über die Sache geredet», meint er dann.
    «Der Polivka ist ein Trottel.»
    «Oder ein Genie,

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