Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
Wohnung abgesehen hatte?»
    «Glaub ich nicht einmal. Er hat eben improvisiert, er hat am Wegrand seiner eigenen Brandspur zusammengerafft, was er nur kriegen konnte. Ich war so   … perplex, dass mir die Schrift vor den Augen verschwommen ist; ich weiß bis heute nicht genau, wie viel er mir damals geboten hat. Muss ich auch gar nicht, weil seine Worte ohnehin für sich gesprochen haben: ‹Selbstverständlich ist der Kaufpreis moderat, aber Sie müssen bedenken, dass ich ja auch Ihre Schulden bei der Bank übernehme. Keine finanziellen Sorgen mehr, keine Kreditraten, keine drohende Zwangsversteigerung; dafür ein Betrag, mit dem Sie die Ablöse für eine hübsche kleine Mietwohnung zahlen können, statt ins Gefängnis zu wandern. Stellen Sie sich vor: ein halbes Jahr hinter Gittern! IhrBub wird sprechen und laufen lernen, und Sie werden es verpassen.›»
    «So ein   … Schwein.»
    «Wer weiß, vielleicht hätte ich ja unterschrieben, wenn er das mit dem Buben nicht gesagt hätte. Vielleicht wäre ich weich geworden, nur um dieses Inferno mit einem Federstrich zu beenden. Aber die Drohung mit meinem Sohn   … Ich bin nur dagestanden und habe es angestarrt, dieses Stück Abschaum. Der Teufel trägt keine Hörner, hab ich mir gedacht, der Teufel trägt Krawatte. Dann hab ich ihn zerrissen, den Vertrag, ganz langsam, wie in Trance; ich hab das Geräusch noch heute im Ohr. Im selben Moment hat der Teufel zu kreischen begonnen. Lächelnd, geradezu feixend hat er um Hilfe gebrüllt   …»
    «Und dann?»
    «Ich habe ihn hochgezerrt und ihm zwei Zähne ausgeschlagen: die Schneidezähne, wie es einer Ratte gebührt. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Polizei schon unterwegs.»

20
    Wer den Verstand auf einen ganz speziellen Ausschnitt jenes schillernden Vexierbilds fokussiert, das man Leben nennt, dem wird über kurz oder lang das Detail als das Ganze erscheinen. Der Astronom wird sich in seinen Galaxien verlieren, der Koch in seinen Töpfen, der Uhrmacher in seiner chronometrischen Unruh. Ein solchermaßen eingeengtes Gesichtsfeld ist ja nicht selten von Vorteil: Kaum jemand wird es sich wünschen, von einem Chirurgen am offenen Herzen operiert zu werden, der währenddessen an schwarze Löcher und sterbende Riesen denkt. Oder – noch schlimmer – ans Würzen und Umrühren. Alle Segnungen unserer modernen Zivilisation beruhen schließlich auf der Fähigkeit des Menschen, seinen Horizont zu beschränken,und nicht, wie gemeinhin behauptet wird, ihn zu erweitern. Ja, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Nobelpreis die höchste Prämierung der dichtesten Scheuklappen ist, eine Ehrung für konsequente, beharrliche Engstirnigkeit.
    Nun hat aber auch die gedankliche Konzentration ihre Schattenseiten. Nicht nur, dass eine selektive Wahrnehmung der Welt die möglichen Facetten des Genusses auf ein Mindestmaß beschränkt (man sitzt an der opulenten Tafel des Nobelbanketts und sieht nichts als den schwedischen Lachs), auch die Gefahr von selbsterfüllenden Prophezeiungen stellt sich ein: Wer sich zum Beispiel täglich damit drohen lassen muss, dass er nicht nur früher als andere, sondern darüber hinaus – mit vorzeitig gealterter Haut und eingeschränkter Fruchtbarkeit – einen langsamen, schmerzhaften Tod sterben wird, der ist am besten Weg dazu, das auch zu tun: Der Geist kann nicht mehr aus; er folgt dem Bannspruch des Voodoo, bis ihm der Körper gehorcht und kapituliert. Der konzentrierte Geist ist nämlich eine Macht, so groß, dass er auch andere, nicht immer gute Geister zu beschwören vermag. Wobei es in der Regel leichter ist, solche Gespenster zu rufen, als sie wieder loszuwerden.
    An diesem Montagvormittag verfolgen sie den Lemming ohne Unterlass, die bösen Geister. Stellen sich ihm an jeder Ecke in den Weg, um ihn auf Schritt und Tritt zu drangsalieren. Nach den Erzählungen Mallys und Jandulas, nach seinem Besuch bei Farnleithner, nach seinen eigenen Erlebnissen mit städtischen Aufreißern und rücksichtslosen Nachbarn ist das auch kein Wunder: So, wie seine Gedanken unablässig um die Niedertracht kreisen, kreist nun eben auch die Niedertracht um ihn; sie lässt seinen kurzen Weg in die Sensengasse, in das Gerichtsmedizinische Institut, zum akustischen Spießrutenlauf geraten.
     
    Wenigstens hat der dämonische Prantzl gestern Abend von alleine das Feld geräumt. Nachdem er dem Lemming von der anderen Straßenseite her zugegrinst und ihm mehrere – aufgrund der zwischen ihnen liegenden Distanz

Weitere Kostenlose Bücher