Lemmings Zorn
zum Glück nur virtuelle – Boxschläge versetzt hatte, ist er mit Rambo, der hechelnden Bestie, in der Dunkelheit verschwunden. Mag ja sein, hat der Lemming gedacht, dass bellende Hunde nicht beißen. Dass drohende Trottel nicht schlagen, bedeutet das aber noch lange nicht. Umso weniger, als sich Prantzl zweifellos an Jandulas Sohlen geheftet hat, um nun den Wirt zu wechseln und – gleich einem ausgerotzten Popel – an jenen des Lemming kleben zu bleiben.
Entsprechend wenig hat die Nacht von dem gehalten, was Nächte gemeinhin versprechen: Schlaf. Zuerst ist der Lemming wachgelegen, hat sich mit stechendem Gesäß und sorgenschweren Gedanken hin- und hergewälzt, dann – nach etwa zwei Stunden – ist Ben aufgewacht. Glasige Augen, strampelnde Glieder, Gebrüll. Wahrscheinlich die Milchzähne, deren schmerzhaftes Wachstum ja nahtlos an die quälenden Blähungen der ersten Monate anschließt, um gleich darauf in die eine oder andere Kinderkrankheit überzugehen. Und wirklich: Nach einer halben Stunde hat der Lemming einen kleinen weißen Punkt in Bens geöffnetem Rachen entdeckt, eine winzige Perle am unteren Kieferknochen. Freude bei Klara und ihm, durchaus. Aber keinerlei Freude bei Ben. Zwei Stunden später hat Klara die Waffen gestreckt. Oder besser: Sie hat sie in Stellung gebracht, auch wenn sie längst nicht mehr geladen waren. Benjamin hat sich an ihren milchlosen Brüsten festgesaugt und ist schon kurz danach entschlummert. Ein Beruhigungsmittel ohne Wirkstoff, ein Placebo, das – nebenbei – auch beim Lemming nur selten die Wirkung verfehlt.
Drei Stunden Schlaf. Dann Klaras Wecker: Der Weihnachtsurlaub ist vorbei, es ist Montag, die Eisbären und Schneehasen warten. Auf den Lemming dagegen wartet ProfessorBernatzky, der Chronist des Todes. Kaum war Klara – gemeinsam mit Castro – aus dem Haus gegangen, hat ihn der Lemming angerufen.
«Institut für Gerichtsmedizin, Watzka», ist eine altvertraute, brummige Stimme aus dem Hörer gedrungen.
Ein bitteres Erwachen nach drei Stunden Schlaf. Nicht schon wieder, hat der Lemming im Stillen gedacht. Nur nicht schon wieder Watzka ausgeliefert sein, diesem Inbegriff eines gärtnernden Bocks, Watzka, diesem radikalen Nebenstellenanarchisten, diesem Albtraum der Fernmündlichkeit. Wie eine Spinne in der Mitte ihres Netzes thront Watzka am Schaltpult der Telefonzentrale, seine Position ist also die eines vermittelnden Beamten. Nur dass er Gespräche etwa so vermittelt, wie sich andere verwählen, verirren, vergreifen. Die einzige, wenn auch geringe Chance, von ihm zum richtigen Anschluss durchgestellt zu werden, besteht darin, ihm einen falschen zu nennen.
«Grüß Sie, Herr Watzka. Geben S’ mir doch bitte den … den Doktor Pollitzer.»
Statt jedoch den Lemming augenblicklich weiterzuverbinden, hat Watzka – nach einem Moment des Schweigens – unerwartet sanft gefragt: «Verzeihen Sie, aber … Sie sind doch der Herr Wallisch, oder?»
«Ja», hat der Lemming verwundert geantwortet. «Woher wissen Sie denn …»
«Ihre Stimme, Herr Wallisch. Man merkt sich doch die Leut, nach so vielen Jahren. Jetzt sagen S’ einmal: Sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber den Professor Bernatzky sprechen wollen?»
«Ich … Also, wenn Sie mich
so
fragen …»
«Na sehen Sie.» Watzka war hörbar zufrieden. «Kleines Momenterl, Herr Wallisch.»
Ein leises Knacken im Hörer. Dann ein sonores Organ am anderen Ende der Leitung: «Pollitzer?»
Ein Glück, dass Doktor Pollitzers Büro gleich neben jenem Professor Bernatzkys liegt. Von den flehentlichen Bitten des Lemming erweicht, hat der Doktor den Professor schließlich an den Apparat geholt.
«Wenn du wissen willst, was der Frau Lehner fehlt, dann komm bei mir vorbei», hat Bernatzky kurz darauf gemeint. «Am Telefon kann ich dir nur versichern, dass sie tot ist.»
Drei Stunden Schlaf. Fünf, vielleicht sechs für den zahnenden Ben. Es versteht sich von selbst, dass dem Kleinen die Augen zufallen, sobald er im Buggy sitzt. Angelas russische Puppe umklammernd, schlummert er ein – und schrickt nach kaum einer Minute wieder hoch: Keine fünf Meter entfernt röhrt die Hupe eines Lieferwagens auf, zerreißt brutal das Band, das in die Traumwelt führt. Benjamin kreischt, der Lemming beschleunigt die Schritte. Direkt neben ihm wird jetzt ein Moped gestartet, kommt heulend auf Touren und knattert dann im Leerlauf vor sich hin. Benjamin kreischt, der Lemming biegt rasch um die Ecke. Hier fährt der
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