Lena Christ - die Glueckssucherin
sollte noch schlimmer kommen: Einige nannten die Autorin sogar abfällig eine »Matz«. Der Ausdruck bezeichnet im Bairischen eine unverschämte Frau, die sich über Konventionen und Verhaltensnormen hinwegsetzt – eine, die tut, was sie will. Auch einige Stimmen, die bis in Lena Christs Kindheit reichen, hat Obermair gesammelt: Eine Frau erzählte, wenn sie einmal nicht ordentlich gekleidet gewesen sei, habe ihre Mutter geschimpft: »Kimmst ja daher wia’s Hansschusterlenei.« Derb und frech sei sie gewesen, »a rechter Rauschauf, a Lausdeandl, a Lugenbeutel!«
Das emotionale Spektrum, das sich in den Lausdirndlgeschichten auftut, reicht von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf bis zu Agota Kristofs Großem Heft : Sowohl kindliche Allmachtsfantasien haben darin ihren Platz als auch Hilflosigkeit, Wut und Einsamkeit. Lenas Alter Ego ist schlau und listig – gerade bei scheinbar harmlosen Anlässen. Zu Ostern beim traditionellen »Oarscheiben« sammelte sie die Eier, mit denen aufeinander gezielt wurde, in ihrer Schürze ein, während die anderen Kinder noch mit ihren Raufereien beschäftigt waren. Zu Hause angekommen ließ sie »dem Großvater die Beute vor die Füße kugeln«. Dieser lobte sie und ließ es sich nicht nehmen, daraus selbst ein Festmahl, seinen »Oarsülot«, zu bereiten.
Im Sommer war das Fischen die große Attraktion für die Kinder: An einen Stock wurde eine Gabel gebunden – und fertig war der Speer. Zuerst wurden die Steine im klaren Wasser beiseitegeschoben; sobald ein Fisch zu sehen war, stieß man zu. Lena bewies besonderes Geschick: Sie fing die Fische sogar mit der bloßen Hand, worauf sie sehr stolz war: »Da nahm ich den Rock auf, stieg in den Bach hinein, bückte mich, tauchte vorsichtig den rechten Arm ins Wasser und näherte mich mit der Hand dem Fisch, bis er zwischen meinen Fingern stand; dann griff ich rasch zu.« Sie nutzte die Zeit, in der die Großmutter im Stall zu tun hatte, um die Fische zu töten und zuzubereiten. Das Töten war ein vollkommen selbstverständlicher Akt: Sie nahm einen Stein, schlug den Fischen damit auf den Kopf, holte heimlich Schmalz aus der Speisekammer, briet die Beute, die sie vorher gesalzen und paniert hatte, und verspeiste sie anschließend mit den anderen Kindern.
Die Großeltern waren großzügig und nachsichtig – alles andere als streng. Wenn sie Lena etwas verboten, dann hatte das immer einen triftigen Grund, doch Lena nahm es nicht ernst und folgte nicht. Die Erinnerungen einer Überflüssigen beginnen mit der Übertretung eines Verbots: Lena war an Scharlach erkrankt und sollte laut Anweisung der Großmutter im Bett bleiben. Der »alte Hausl«, der seinen Lebensabend im Hansschusterhaus verbrachte, wurde beauftragt, das Haus zu hüten und auf das Kind aufzupassen, während die Großeltern die Sonntagsmesse besuchten. Schon seine erste Abwesenheit – er ging in sein Zimmer, um sich zu rasieren – nutzte Lena, um zu entwischen. Sie lief durch den Schnee zum Haus der Nachbarin und fand die Tür verschlossen: »Und da ich nun lange im Hemd und dem roten Flanellunterröckl barfuß im Schnee gestanden war und vergebens gewartet hatte, schlich ich wieder heim; denn es war bitterkalt.« Der alte Hausl war entsetzt; das Unheil nahm seinen Lauf: Lena, ohnehin schon vom Scharlach geschwächt, bekam hohes Fieber und wurde so krank, dass man um ihr Leben fürchtete. »Aber der Großvater hat mich gepflegt, und so bin ich wieder gesund geworden«, lautet der Schluss der Episode. Einerseits wird das große Vertrauen des Kindes zum Großvater deutlich, andererseits schwingt ein extremer Eigensinn mit, der den Respekt für andere Menschen verhinderte.
Die Erziehungsversuche der Großmutter wurden von der Enkelin nicht ernst genommen. Lena ignorierte etwa auch die Anweisung, am Waschtag zu Hause zu bleiben: »Ich aber nahm, dem Verbot zum Trotz, meinen Stecken mit der Gabel und schlich leise hinterdrein.« Sie benutzte die Waschbank, die in den Bach hineinragte, als Ausgangspunkt fürs Fischen, von der Großmutter unbemerkt, verlor dabei das Gleichgewicht und geriet in eine gefährliche Lage: Ihre Füße hingen auf der Bank fest, doch der Kopf war schon unter Wasser getaucht. Endlich gelang es ihr, die Füße zu befreien. »Derweilen hatte mir aber das Wasser schon alle Kraft genommen und trieb mich nun unter der Waschbrücke hindurch grad unter die Hände meiner Großmutter.« Wieder einmal überwog die Erleichterung darüber, dass alles gut gegangen
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